Es gibt den Gorki-Park, die Champs-Élysées oder die Warwick Avenue – Orte, die einem aus Liedern geläufig sind, ohne sie je besucht zu haben. Für mich ist das Westkreuz einer dieser Orte. Ein heruntergekommener Verkehrsknotenpunkt im S-Bahn-Netz von Berlin als Refrain in einem Lied voller treffender Beobachtungen und Alltagsbanalitäten. Von der Berliner Indie-Pop-Band «Von wegen Lisbeth» mit einer Melodie versehen, die so eingängig ist, dass sie seither in meinem Hinterkopf festhängt, wie der Welthit von Joe Dassin.

Eine Station eher steige ich aus, um dem Schloss Charlottenburg und seinen Park bei bestem Spätsommerwetter einen Besuch abzustatten. Gebaut im Stil von Barock, Rokoko und Klassizismus betört die ehemalige Sommerresidenz der Hohenzollern-Dynastie im Westen der Hauptstadt seine Besucher.

Auf dem Hohenzollerndamm, fünf Kilometer südlich, geht es weniger pompös zu und her. Autos rasen über die Autobahn, am Horizont qualmt Rauch aus den Kaminen des Heizkraftwerks, die Häuserfassaden sind vergilbt. Ich gehe dem Damm entlang, bis ich vor dem Stadion Wilmersdorf stehe. Dieses wird vom Berliner Sportverein dank eines Trainers, der Naturrasen der Nachahmung vorzieht, seit kurzem wieder häufiger bespielt. Einst hatten hier fünfzigtausend Zuschauer Platz. Da diese Kapazitätsgrenze stets unerreicht blieb, entschieden sich die Verantwortlichen 2005 für eine Renaturierung grosser Teile der Anlage. Geblieben ist die überdachte Haupttribüne sowie ein betonierter Abschnitt gegenüber. Der Rest ging zurück an die Natur und dient auf der Nordseite gar als Weinberg.

Sonnenschein, ein Bier zur Mittagsstunde, ein Bezirksliga-Duell auf achter Ligastufe und kernige Sprüche von Spielern der zweiten Mannschaft, die es sich ebenfalls auf der Tribüne gemütlich gemacht haben: eine romantische Vorstellung von Fussball als Volkssport, die hier Realität wird. Die 150 Zuschauer scheinen sich zum Grossteil zu kennen, entsprechend gilt es keinen Pseudo-Massnahmenkatalog für die psychologische Bekämpfung von Covid-19 einzuhalten. Kurz vor Abpfiff, beim Stand von 1:0 für den Gastgeber, laufe ich zurück zur Haltestelle, da bereits das nächste Spiel auf mich wartet. Am Westkreuz muss ich umsteigen; der Fahrstuhl riecht nach Pisse.