Mitte Oktober 2020: Stell dir vor, es ist Fussball und jeder geht hin. Bei über einer Million Einwohner, die in Sofia leben, ist diese Aussage natürlich übertrieben. Für Personen, die volle Fankurven nur noch aus sehnsüchtigen Erinnerungen kennen, sind über zweitausend Zuschauer aber deutlich mehr, als jedes Mal in den Monaten vorher. Mit einer Ausnahme: im August, als ich einige Tage in Budapest verbrachte.

Dort sah die Politik der Pandemie entspannt entgegen. In Bulgarien sind die Umstände ähnlich: Bisher vergleichsweise tiefe Fallzahlen bedeuten – auch für den Fussballbetrieb – nur moderate Einschränkungen. Konkret darf jedes Stadion maximal zur Hälfte und jeder Block mit maximal tausend Zuschauern belegt sein. Da die meisten Vereine in einem grossen Stadion spielen und diesen Prozentsatz sowieso nur selten überschreiten, schränkt sie der Regierungserlass kaum ein.

In Sofia war ich Ende 2015 bereits einmal. Damals habe ich mir das gammelige Rakovski-Stadion und auch ein Spiel der ersten Liga angeschaut. Genau genommen waren es allerdings nur 44 Minuten Fussballkost, die Levski Sofia und Litex Lovech den Zuschauern an jenem kalten Dezemberabend geboten haben. Nach strittigen Entscheidungen des Schiedsrichters gegen die Gäste, die zum Zeitpunkt des Unterbruchs in Führung lagen, erzwang der Vereinspräsident von Litex einen Spielabbruch, indem er seine Mannschaft in die Kabine beorderte. Der bulgarische Fussballverband schloss Litex Lovech nach diesem Eklat mit sofortiger Wirkung von der Meisterschaft aus.

Nun wird es spannend: Ein halbes Jahr zuvor verweigerte der Verband CSKA Sofia, dem erfolgreichsten Verein des Landes, aufgrund von Zahlungsunfähigkeit die Lizenz und stufte ihn in die dritte Liga zurück. Nach diesem Zwangsabstieg präsentierte sich im Juni 2015 Grischa Gantschev, ein Geschäftsmann aus der Ölbranche, als neuer CSKA-Besitzer und Retter. Pikant: Gantschev besitzt zu diesem Zeitpunkt mit Litex Lovech bereits den Verein, der in der Winterpause aus der ersten Liga verbannt wird.

Unter seiner Führung gewinnt CSKA Sofia im Folgejahr als erster Drittligist völlig überraschend den bulgarischen Cup. Im Sommer 2016 witterte Opportunist Gantschev schliesslich seine Chance. Er benennt Litex Lovech – unter gütiger Mithilfe von Funktionären und Politikern – in PFC CSKA Sofia um und verfrachtet den Verein in die Hauptstadt, wo er fortan in der ersten Liga spielt. Die nötige Lizenz liefert der damalige Drittligist Chavdar Etropole. Das ruhmreiche CSKA Sofia aus der dritten Liga, wie auch der ausgeschlossene Erstligist Litex Lovech, existieren plötzlich nicht mehr.

Einige CSKA-Fans, allen voran die führende Ultra-Gruppierung Ofanziva, proklamieren diesen Tag als Todestag ihres Vereins. Sie gründen einen neuen Verein unter dem Namen CSKA 1948 Sofia und starten in der vierten Liga. Auch Litex Lovech wird neu gegründet und spielt mittlerweile wieder in der zweiten Liga. Im Gegensatz zur Situation in Lovech, die kaum mediales Aufsehen erregt, tobt in Sofia seither ein Streit darüber, welcher Verein das rechtmässige CSKA verkörpert.

Als das aus Protest gegründete CSKA 1948 Sofia auf diese Spielzeit hin gar den Aufstieg in die höchste Spielklasse realisierte, steht die Hauptstadt plötzlich vor mehreren brisanten Derbys: die Spiele gegen Rivale Levski, aber auch die Duelle zwischen PFC CSKA Sofia und CSKA 1948 Sofia. Das Recht am Wappen hat sich PFC CSKA Sofia, also jener Verein von Grischa Gantschev, gesichert und auch ein Grossteil der CSKA-Fans, darunter die beiden grossen Fangruppierungen Animals und Offenders, sehen in jenem CSKA den wahren Nachfolger ihres Vereins. Einzig für Fans von Levski Sofia ist klar, dass PFC CSKA Sofia nur eine billige Kopie ist. So beerdigten sie ihren Rivalen bereits vor Jahren mit einem symbolischen Trauerzug im Vorlauf des ersten Derbys nach der Rückkehr von PFC CSKA Sofia in die erste Liga.

Im Waldstück hinter dem Nationalstadion Vasil Levski, wo CSKA 1948 Sofia spielt, liegt die Heimat von PFC CSKA Sofia. Heute ist Beroe aus Stara Zagora zu Gast, einer Stadt im Zentrum Bulgariens. Zum Anpfiff zeigt die Heimkurve eine schöne Choreografie. Allgemein geniesst die Mannschaft – die von den meisten Fans nur CSKA Sofia genannt wird – zurzeit grossen Rückhalt. Grund dafür ist der Einzug in die Gruppenphase der Europa League, wofür CSKA unter anderem auch den FC Basel ausschaltete. Es ist ein unterhaltsames Duell, dass sich CSKA und Beroe liefern. Beide stehen in der Tabelle weit vorne und spielen offensiv – eine günstige Konstellation auf ein spannendes Spiel für den neutralen Beobachter unter den 2’500 Zuschauern. Die Gästeführung vermag CSKA nach einem Eckball ausgleichen; es bleibt schliesslich bei einem verdienten 1:1-Unentschieden. Für mich bleibt jedoch das Rundherum heute Abend das Spannendste: Die Hintergründe zum Namensstreit der beiden Vereine, vor allem aber die Gesänge der Heimfans, die meinen Fuss im Takt wippen und mich die Pandemie einen Moment lang vergessen lassen.