FC Lausanne-Sport - FC St. Gallen
Seit der Eröffnung der Tuilière (Ziegelbrennerei) müssen sich Gästefans in Lausanne nochmals einen Kilometer weiter den Hügel hochquälen. Drei Mal bereits hatte ich dabei mit wehmütigem Blick die historische Pontaise passiert und gar schon dem Nebenplatz mit seiner futuristischen Tribüne einen Besuch abgestattet. Nur ein Spiel im Ende 2020 fertiggestellten Stadion mit architektonisch interessantem Baustil blieb mir bisher aus verschiedenen Gründen verwehrt.
Auch die kleine Fanszene, die sich im Schatten der etablierten Anhängerschaft des Eishockeyclubs Lausanne HC gut zu entwickeln scheint, überzeugt mit ästhetischem Material und ansprechendem Support. Nur der Kunstrasen und die sperrigen Vario-Sitze im Heimsektor stören die visuelle Wahrnehmung. Gleiches gilt für den Gästeblock, der an diesem Sonntag von den zahlreich in die «olympische Hauptstadt» angereisten grün-weissen Unterstützern bevölkert wird.
Das fussballerische Aushängeschild der Stadt ist nach dem Abstieg von Lausanne-Ouchy auch in sportlicher Hinsicht unumstritten der FC Lausanne-Sport. Dieser gehört seit Ende 2017 dem britischen Petrochemiekonzern Ineos, der in seiner Amtszeit bereits einige fragwürdige Entscheide getroffen hat: Die Engländer führten ein neues Logo ein (und kehrten nach Protesten zum alten zurück), degradierten den Schweizer Vertreter zum Ausbildungsverein des OGC Nice – nebst dem südfranzösischen Klub hält Ineos auch Anteile an Manchester United – und liess das Kader der Blau-Weissen Jahr für Jahr internationaler werden. Den kurzzeitigen Abstieg im Sommer 2022 konnten die Investoren dennoch nicht verhindern.
Mit Lausanne-Sport assoziieren viele St. Galler Fans nebst einem mühsamen Fussmarsch zum Stadion zwei herbe Niederlagen im Pokal: 1998 verlor St. Gallen den Cupfinal (nach 2:0-Führung) und zwölf Jahre später den Halbfinal – vor heimischem Anhang und gegen die damals unterklassigen Gäste aus der Romandie. Auch diesmal bereiteten die Westschweizer dem FCSG nach intensiven Tagen rund um das Europacup-Spiel in Kasachstan in der Schlussphase Probleme. Die Grün-Weissen hatten vor 6024 Zuschauer ihren Vorsprung zwischenzeitlich auf drei Tore ausgebaut, mussten beim 3:4 aus Sicht der Gastgeber nach einem Leistungseinbruch aber gleichwohl noch um den Sieg zittern.
FC Vignoble - FC Châtel-St-Denis II
Wer mit dem Zug von Bern in die Westschweiz fährt, dem tut sich kurz vor Lausanne die Riviera des Genfersees auf. Es ist ein einmaliger Anblick, der den Reisenden hier rund um die sonnenverwöhnten Weinterrassen, die charmanten Dörfer an den Hangausläufern, die französischen Alpen und dem türkisfarbenen Wasser gewährt wird. Kein Wunder steht die Region Lavaux seit 17 Jahren auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes.
Mit dem «Stade des Ruvines» liegt auch ein Fussballfeld mit pittoreskem Ausblick an den Waadtländer Uferhängen. Ein Besuch hier stand bereits seit vielen Jahren auf der Agenda, liess sich bisher allerdings nicht mit dem Kalender vereinbaren. Dieses Mal sollte das Testspiel zwischen dem FC Vignoble und den Gästen aus Châtel-Saint-Denis perfekt in den Zeitraum zwischen der Rückkehr aus Kasachstan und dem St. Galler Auswärtsspiel in Lausanne passen. Vor dem Besuch beim Siebtligisten blieb auch Zeit, um bei einer längeren Wanderung durch die Rebberge von Vevey bis nach Lutry den lokalen Weisswein der Sorte Chasselas (Gutedel) in seinem gesamten Spektrum aus den Anbaugebieten Calamin, Dézaley, Epesses und Saint-Saphorin zu verköstigen.
«Visit Lavaux» steht dann auch auf dem Trikot des FC Vignoble, der zwar in Cully beheimatet ist, allerdings alle Dörfer der Weinregion vertritt. Inspirieren liess sich der Klub beim Slogan von Arsenals «Visit Rwanda», wie Bernard Porret erklärt. Der Funktionär ist seit 1987 im Verein aktiv, wird von allen nur «Mucho» genannt und gewährt uns vielschichtigen Einblick in die Annalen und das aktive Vereinsleben. So erfahren wir auch, dass die sehenswerten Graffiti hinter dem Tor und beim Vereinsheim – eines davon zeigt Klublegende Porret selbst – von Ultras des Eishockeyteams Lausanne HC gefertigt wurden und mit Numa Lavanchy auch ein Spieler aus der Super League eine Vergangenheit beim FC Vignoble aufweist.
Die vier St. Galler unter den 50 Zuschauern sind längst zentrales Gesprächsthema, während das 1:0 für die Hausherren in der Generalprobe vor dem Saisonstart eher beiläufig zur Kenntnis genommen wird. Auch Porret hat sich angesichts der hohen Temperaturen mittlerweile mit einer weiteren Flasche Weisswein an unseren Tisch gesetzt und wettert über die Gemeinde, die den einst grünen Rasen in den Sommermonaten derart hat austrocknen lassen.
FC Tobol Qostanai - FC St. Gallen
Einfach nicht gegen ein Team aus Aserbaidschan! Am Schluss sollte die Auslosung der 2. Quali-Runde zur Conference League für den FC St. Gallen und seine Fans gar einen noch weiter entfernten Gegner bereithalten: Tobol Qostanai aus dem Norden von Kasachstan. Nebst Qostanai liegen auch Städte wie Turbat in Pakistan oder Bala Murghab in Afghanistan auf dem 63. östlichen Längengrad. Ein Pflichtspiel über 3800 Kilometer Luftlinie von der Heimat entfernt, das sind wahrlich indonesische Verhältnisse. Very nice!
Viele Jahre nämlich liessen mich Klubnamen wie Torpedo Kutaissi und Schachtjor Karaganda oder Bilder von Basler Europacup-Reisen, darunter auch nach Qostanai (sämtliche eurer Sticker und Tags wurden selbstverständlich überklebt), sehnsüchtig von Osteuropa-Erfahrungen mit «meinem» Verein träumen. Und doch ereilten mich gemischte Gefühle, als sich nach dem 2:5 von Tobol im Hinspiel beim slowakischen Vertreter aus Ruzomberok in der EL-Qualifikation eine Reise nach Kasachstan abzeichnete. Schliesslich liegt Qostanai im wenig sehenswerten und schlecht erschlossenen Norden des neuntgrössten Landes der Welt. Da wäre ein Duell mit Kairat Almaty oder Ordabassy Schymkent aus dem Süden aus kultureller und reisetechnischer Sicht vielversprechender gewesen. Auch die von Qostanai knapp zehn Autostunden entfernte Hauptstadt Astana, die den östlichsten Vertreter der Uefa-Wettbewerbe auf Klubebene in der Saison 2024/25 beherbergt, wäre einfacher zu erreichen gewesen.
Dass die kasachischen Klubs an den europäischen Wettbewerben teilnehmen dürfen, haben sie fünf Prozent ihrer Landmasse zu verdanken, die aus geografischer Sicht in Europa liegt. Der Rest zählt zu Zentralasien – so auch Qostanai, die mit einer Viertelmillion Einwohnern lediglich zwölftgrösste Stadt des Landes. Wie der FC St. Gallen ist auch Qostanai 1879 gegründet worden; von einem Generalgouverneur zu Ehren des letzten russischen Zaren. Die sowjetische Prägung und die Nähe zu Russland sind bis heute spürbar und auch die russische Grossstadt Tscheljabinsk liegt nur 300 Kilometer entfernt. Im Gegensatz zum muslimisch geprägten Kasachstan sind im Norden der 1991 gegründeten Republik die Muslime in der Minderheit und nur wenige Bewohner sprechen Kasachisch, geschweige denn Englisch.
Der nach dem städtischen Fluss benannte FC Tobol wird im Alltag kaum wahrgenommen und hat bereits fünf Umbenennungen hinter sich. Mit zwei Meistertiteln und Cupsiegen ist der Klub kein sportliches Schwergewicht und verdiente sich die Teilnahme an der Europacup-Qualifikation durch den Erfolg im Pokal im Vorjahr. Auch auf fantechnischer Ebene sind die beiden Gruppen «We are Tobol» und «10 Sever Fans» als weniger schlagkräftig als ihre Pendants aus Aktobe (13 Sector) und der einstigen Hauptstadt Almaty (Basmachi) einzuschätzen.
Nichtsdestotrotz sieht sich die Polizei dazu verpflichtet, die beiden Unterkünfte für die 130 St. Galler Fans die ganze Zeit über zu bewachen, weil sie Angriffe aus fussballfernen Teilen der wenig touristenfreundlichen Bevölkerung offenbar nicht ausschliessen. Im Stadion selbst herrscht dagegen unerwartet friedliche Stimmung und auch die im Gästesektor zahlreich präsenten Polizei- und Militärvertreter sind zu keiner Zeit auf Konfrontation aus. Nur die erntebedingte Präsenz von Kornkäfern und die nach Überschwemmungen zurückgebliebene Mückenplage sorgen dafür, dass beim 0:1 aus Sicht der Einheimischen immer wieder einer der 5842 Zuschauer wild um sich schlägt.
FK Suduva - FK Kauno Zalgiris
Das Zentrum von Marijampole ist zweckmässig gebaut, Betonstrukturen dominieren das Stadtbild. Nur selten versucht eine vergilbte Holzfassade eines grünen oder gelben Häuschens dem Ort etwas Lebenslust einzuhauchen. Auch die Gesichter der Menschen sind hier im Südwesten Litauens gefühlt noch etwas furchiger, die Augenringe ausgeprägter und die Blicke eine Stufe leerer als etwa in Vilnius. Im 2. Weltkrieg besetzten sowohl sowjetische als auch deutsche Truppen Marijampole und zogen die Stadt in kriegerische Mitleidenschaft. Bis heute erinnert die nur 40 Kilometer entfernte russische Exklave Kaliningrad an diese Zeit.
Dem Fussball ist im Norden der rund 40‘000-Einwohner-Gemeinde eine Anlage gewidmet, zu der nebst zwei Trainingsplätzen und dem Stadion auch eine Fussballhalle zählen, die in den bisweilen kalten ersten Monaten der Meisterschaft als alternative Spielstätte dient. Der FK Suduva wirkt wie ein Breitensportklub mit zu gross geratener Haupttribüne: Die Anzeigetafel ist kaputt, der Medienchef agiert von der Tribüne aus auch als Speaker und am einzigen Verpflegungsstand kennt man sich. Trotz der familiären Atmosphäre hegt der Klub sportliche Ambitionen und ist auf internationaler Bühne bereits drei Mal bis in die Playoffs zur Europa League vorgedrungen. 2017 haben die Litauer auf diesem Weg auch den Schweizer Vertreter FC Sion souverän eliminiert.
Der Name des Klubs aus Marijampole geht auf die gleichnamige historische Landschaft zurück. Des Ausrufs «Su-du-va» bedienen sich mit den «Suduvos Sakalai» (Suduvas Falken) auch die elf Heimfans, die hinter drei Zaunfahnen stehen und gelegentlich Gesänge anstimmen. Unter dem Dach ziehen jedoch keine Falken, sondern Schwalben ihre Kreise, wobei sie bei ihren Flügen auf das einsame Kommentatoren-Duo Rücksicht nehmen müssen, das sich – etwas gewöhnungsbedürftig – ebenfalls in der Dachschräge eingenistet hat.
Unter den 425 Zuschauern weilt auch ein Ehepaar aus Kaunas, das gar eine Fahne von Kauno Zalgiris (ausgesprochen als «Schalgiris») im Gepäck hat. Diese zeigt das Vereinslogo, das sich die Fussballer mit der wesentlich bekannteren und älteren Basketballabteilung teilen. Die beiden Anhänger aus der zweitgrössten Stadt des Landes verfolgen das umkämpfte 2:2 stehend und im Fall der Frau bisweilen gar springend, wobei dieses Verhalten eher auf ihre Nervosität als auf konkrete Supportbemühungen zurückzuführen sein dürfte.
DFK Dainava - FA Siauliai
«Du hast dir ein schlechtes Spiel ausgesucht», erklärt mir ein Vertreter der «Dzuku Tankai» in der Pause. Trotz der frühen Anstosszeit unter der Woche unterstützt die 2001 gegründete Ultra-Gruppe ihre Mannschaft unermüdlich, wenn auch ihren Anfeuerungsrufen an diesem Dienstagabend etwas die Durchschlagskraft fehlt. Viele Dainava-Fans sind aufgrund der Arbeit aus Alytus weg- oder gar in die Hauptstadt gezogen. Dorthin pflegen die Panzer (Tankai) in Person der «Rytas Ultras» denn auch eine Freundschaft. Für beide Fanlager stellt Zalgiris den Hauptfeind dar, beim Basketballklub Rytas ist es jener aus Kaunas, für Dainava der gleichnamige Fussballklub aus der Hauptstadt.
Den ersten Teil ihres Namens verdanken die Ultras der historischen Region Dzukija, die früher Dainava – ausgesprochen als «Dai-na-wa» – hiess und damit auch am Ursprung des Vereinsnamens steht. Die Gegend ist polnisch geprägt, wenn auch mit Grodno die fünftgrösste Stadt von Belarus nur 80 Kilometer entfernt in südlicher Richtung liegt. Alytus ist mit 50‘000 Einwohnern eher klein und hält kaum Attraktionen bereit, dafür ist die Fahrt von Vilnius aus umso sehenswerter. Nebst den zahlreichen Störchen, die durch die Felder entlang der Landstrasse stolzieren, versprüht besonders der Ort Trakai mit seiner Altstadt und der malerischen Wasserburg, dem einstigen Sitz der litauischen Grossfürsten, besonderen Charme.
Auch das Stadion umgibt dank seiner Lage inmitten eines Kiefernwaldes besonderes Flair. Einzig die vielen Mücken, die vom Geruch des traditionellen Kepta Duona angelockt werden, stören die Idylle. Das gebratene Roggenbrot mit Knoblauch sieht aus wie zu lange frittierte Country Potatoes und wird in einem Becher serviert. Aus der Tradition zurück in die Gegenwart werden die 600 Zuschauer durch Dainavas Torschütze zum 2:0 geführt, der für seinen Jubel zum VAR-Bildschirm rennt und gestenreich den eigenen Treffer überprüft. Wie bereits beim letzten Auftritt beweisen die Gäste aus Siauliai aber Moral und holen in der letzten halben Stunde einen doppelten Rückstand auf, sodass am Schluss ein 2:2 von der Anzeigetafel flimmert.
FK Zalgiris Vilnius - FK Panevezys
Das litauische Nationalstadion ist die Sagrada Familia unter den Fussballstadien. 1987 setzten die Bauherren in Vilnius zum Spatenstich an, vier Jahre später mussten die Arbeiten aufgrund finanzieller Engpässe für lange Zeit unterbrochen werden. Erst 2008 erfolgte auf Bestreben der litauischen Regierung die Wiederaufnahme der einstigen Pläne, die wenig später von der Weltwirtschaftskrise abermals herb ausgebremst wurden. Vom zweiten Anlauf blieb ein Skelett aus Stahlträgern übrig, um dessen Rippen sich langsam, aber stetig die Pflanzenwelt schlängelte. Seit zwei Jahren wird auf der einstigen Brache wieder gearbeitet und im kommenden Sommer soll die neue Arena nach knapp vier Dekaden endlich fertig sein.
Die Grossbaustelle im Norden ist der braune Fleck auf der weissen Weste der litauischen Hauptstadt am Fluss Neris. Nebst den historischen Bauten sorgen besonders der Stadtteil Uzupis, die Kirche St. Anna sowie die Bars des nahegelegene Bernardin-Hofes für einen positiven Eindruck vom Zentrum des katholisch geprägten Landes mit knapp drei Millionen Einwohnern.
Wegen den Verzögerungen rund um das neue Nationalstadion figuriert seit bald zwei Jahrzehnten das LFF-Stadion als Zuhause der Nationalmannschaft, das primär von Rekordmeister und -pokalsieger Zalgiris genutzt wird. Unterstützt wird dieser bei Heimspielen in der Regel von zwei 30-köpfigen Fangruppen. Nebst einer Ansammlung am unteren Ende der Gegengerade sind am Rand der einzigen Hintertortribüne die «Pietu IV Ultras» zugegen, deren «Slava Ukraini»-Gesänge Solidarität mit der Ukraine und ihren Freunden aus der Anhängerschaft von Dynamo Kyiv ausdrücken.
Der Grossteil der 1621 Zuschauer verfolgt das Spiel hingegen lethargisch und schlapp von der Hitze, wozu die träge Partie ihren Beitrag leistet. Zalgiris – dessen Namen für das polnische Dorf Grunwald (Grünfelde) steht und sich auf die Schlacht bei Tannenberg bezieht – ist feldüberlegen, hat aber vor dem gegnerischen Tor wenig zündende Ideen. Gegen den Tabellenvorletzten führen die Hausherren erst in der siebenminütigen Nachspielzeit die Entscheidung herbei, sodass der Anschlusstreffer zum 2:1 aus Sicht des Leaders der «A lyga» nicht mehr ins Gewicht fällt.
Der amtierende Meister aus Panevezys steckt hingegen weiter in der Krise. Dass ihm in die Hauptstadt keine rot-blauen Anhänger gefolgt sind, liegt aber nicht am enttäuschenden sportlichen Abschneiden, sondern am Konstrukt generell: Dieses wurde 2015 nach der insolvenzbedingten Auflösung des städtischen Traditionsvereins FK Ekranas ins Leben gerufen. Der Kern der Fanszene – früher als «Ekranas Ultras» und heute als «Pirmoji Armada» organisiert – konnte sich nie mit dem Nachfolgeverein anfreunden und rief 2020 stattdessen unter dem einstigen Namen den alten Klub wieder ins Leben. Seit drei Spielzeiten tritt dieser in der zweithöchsten Liga an – unter anderem gegen die Reserve des FK Panevezys.
FA Siauliai - FC Dziugas
Auf dem Stadtsee trainiert eine Gruppe Ruderer unter den wachsamen Augen zweier Senioren, die in Socken und Sandalen gekleidet auf einer Bank schweigend ihr Bier trinken. Ein junges Ehepaar streicht den verrosteten Gartenzaun neu, im Park nebenan laufen die letzten Vorbereitungen für das abendliche Big-Band-Festival und vom Spielplatz dringt aufgeregtes Kinderlachen herüber. Das osteuropäisch-skandinavisch geprägte Alltagstreiben versprüht an diesem warmen Juni-Wochenende eine frühsommerliche Idylle in Siauliai.
Abgesehen vom einige Kilometer ausserhalb gelegenen Berg der Kreuze, einem katholischen Wallfahrtsort auf einem Hügelrücken mit über 200’000 Kreuzen, weist die Gegend in Norden Litauens wenig Sehenswertes auf. Einzig im Zentrum der 100’000-Einwohner-Stadt steht ein Schild, das auf das Spiel am Abend verweist. Doch auch der Fussball spielt in «Scheaulej», wie im restlichen Land, hinter dem Nationalsport Basketball nur eine Nebenrolle.
Die lokale «Football Academy» ist 2007 einer Fusion entsprungen und nicht mit dem FK Siauliai zu verwechseln, der über 10 Jahre in der höchsten Spielklasse spielte, ehe er sich 2016 aufgrund finanzieller Engpässe zur Auflösung gezwungen sah. Seither hat die ambitionierte FA Siauliai die Vorherrschaft inne und begrüsst zum Lokalduell gegen den FC Dziugas aus Telsiai in ihrer erst dritten Erstliga-Saison 510 Zuschauer im städtischen Stadion. Die Tickets werden auf Thermopapier gedruckt, dem Bier fehlt der Alkohol und die bescheidene Darbietung auf dem Rasen wird zusätzlich von langen Unterbrechungen durch den VAR entwertet. Immerhin fallen dank der überschaubaren Qualität bereits im ersten Durchgang vier Tore, wobei das Heimteam nach der frühen Führung gleich drei Gegentreffer verkraften muss.
Wie der FC St. Gallen tritt auch Siauliai in der Qualifikation zur Conference League an, was mich in ein Gespräch mit einem exzentrischen Vereinsfunktionär auf der Medientribüne verwickelt. Wir sinnieren gerade über den Schweizer Fussball («Why on earth would you name your team Young Boys?») und Traumlose auf europäischer Bühne, als die Gastgeber in der 86. Minute das 3:3 erzielen. Seine Freude währt bis tief in die Nachspielzeit, ehe er den stümperhaft verpassten Lucky Punch für Siauliai mit einem zerbrochenen Bierglas und dem Ausruf «fucking shit» quittiert.
SV Lichtenberg 47 - TSG Neustrelitz
Saisonfinale in der Oberliga Nord der Nordost-Staffel. Im Fernduell mit der Hertha aus Zehlendorf geht es für den zweitplatzierten SV Lichtenberg 47 am letzten Spieltag um den Meistertitel und den damit verbundenen Aufstieg in die Regionalliga. Entsprechend gross ist an diesem Frühsommertag das Interesse am Quartierverein aus dem 11. Berliner Bezirk.
Mit 1010 Zuschauern herrscht eine würdige Kulisse für die fünftklassige Partie und auch das nach dem antifaschistischen Widerstandskämpfer Hans Zoschke benannte Stadion kann sich sehen lassen: Nebst einem breiten Gastroangebot und der analogen Anzeigetafel sorgen von Gras überwachsene Stehstufen sowie ein alter Pin-Verkäufer mit Exemplaren aus der Zeit der DDR-Oberliga für besonderen Charme. Trotz eines erfolgreichen Schlussspurts und einem 4:2 über Neustrelitz bleiben in Lichtenberg nach dem Schlusspfiff die Feierlichkeiten aus, weil parallel auch die Konkurrenz aus dem Südwesten Berlins in Rathenow siegt. Die Enttäuschung hält sich beim kleinen Fanblock von «L47» allerdings in Grenzen und die Mannschaft wird trotz des verpassten Aufstiegs für die ansprechende Spielzeit mit Applaus in die Sommerpause verabschiedet.
Nebst dem authentischen Fussballerlebnis ist ein Besuch in Lichtenbergs Spielstätte auch aufgrund deren Lage unmittelbar neben der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit empfehlenswert. Die Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstrasse gewährt hierbei einen umfassenden Einblick in die Machenschaften der Stasi, die mit grotesker Perfidität und Doppelmoral die eigene Bevölkerung während vier Jahrzehnten hintergangen, überwacht und verfolgt hatte.
Siracusa Calcio - LFA Reggio Calabria
Gleich eine Vielzahl vielversprechender Partien gingen an diesem Sonntag in Sizilien über die Bühne: Im Kampf um den «Scudetto» der Serie D gastierte Cavese in Trapani, während sich im Final der Playoffs Siracusa und Reggio Calabria gegenüberstanden. Eine Ligastufe tiefer hielt der Halbfinal der Aufstiegsspiele die Paarung Milazzo – Jonica bereit und den Geheimtipp verkörperte das Endspiel der Coppa Italia der Sechstligisten zwischen Vittoria und San Vito Lo Capo, wo von einem starken Auftritt der «Curva Sud Turi Ottone» auszugehen war.
Die Qual der Wahl fiel schliesslich – mitunter aufgrund der Nähe zum Nachtquartier Catania und der schönen Altstadt – auf das Heimspiel von Siracusa. Mit der «Curva Anna» wartet hier eine gestandene Fanszene auf einen Besuch, die ihren Namen Anna Rametta verdankt. Bis zu ihrem Tod war «Signora Rametta» nicht nur die Mutter von Fan Carmelo, sondern auch ein steter, gern gesehener Gast auf der Heimtribüne gewesen, die mit ihrem freundlichen Wesen für viele Anhänger zur «Mamma» der Kurve avancierte. Weniger schöne Worte fanden die Küstenstädter hingegen jüngst für ihre einstigen Brüder von Juve Stabia, mit denen sie eine 45-jährige – und damit eine der italienweit längsten – Freundschaft verband. Nachdem die Sizilianer Anfang Mai auf dem Weg zum Auswärtsspiel bei Afragolese in Casalnuovo di Napoli in einen Hinterhalt geraten waren, warfen sie ihren Freunden aus Castellammare di Stabia in einer Mitteilung Verrat vor. Weil diese eine Freundschaft zu den Ultras Napoli und damit zum Lager der Angreifer pflegen, hätten sie von deren Absichten zwingend gewusst und ihre Freunde warnen müssen, begründeten die Siracusa-Fans die Auflösung der «Gemellaggio».
So beschränkte sich die Präsenz befreundeter Ultras an diesem Nachmittag auf den «Sita Clan» aus Agrigento, der ältesten «Amicizia», welche die Heimkurve aufweist. Auch zum heutigen Kontrahenten aus Reggio Calabria pflegten die Blau-Weissen vor der Jahrtausendwende einst ein gutes Verhältnis. Ob dies mit ein Grund war, dass die Behörden zum Playoff-Final in der Girone I Gästefans zugelassen hatten, wage ich jedoch zu bezweifeln. Ein Transparent mit dem Wunsch nach Auswärtsfahrten ohne Einschränkungen und die mit 343 tiefe Zahl an Reggina-Fans liessen aber erahnen, dass seitens der Verantwortlichen ein kurzfristiges Umdenken stattgefunden hatte. Diese These stützte auch der bekannte Fangesang aus dem Gästeblock zur Melodie von Marcella Bellas «Montagne verdi».
Mit 4900 Zuschauern waren die restlichen Sektoren des Stadions für die Entscheidung in der südlichsten Staffel der Serie D ausverkauft. Benannt ist die Spielstätte nach dem ehemaligen Juve-Stabia- und Siracusa-Verteidiger Nicola De Simone, für dessen Begräbnis 1979 über 1500 Siracusa-Fans nach Castellammare di Stabia reisten und dort den Grundstein für die nun zerbrochene Freundschaft zwischen den beiden Fanlagern (und später sogar zwischen den Städten) legten.
Mit zwei lautstarken Kurven, ebenso vielen roten Karten und etlichen Rudelbildungen oder Diskussionen mit dem Schiedsrichter bekam die Partie einen emotionalen Rahmen verliehen. Den würdigen Höhepunkt stellte der vielumjubelte Treffer zum 2:1 für Siracusa in der 88. Minute dar, auf den die Gäste nicht mehr zu reagieren vermochten. Trost gab es für die leidgeprüften Reggina-Anhänger, die ihr Team noch vor einem Jahr in den Aufstiegsspielen zur Serie A angefeuert hatten, erst Wochen später und abseits des Rasens: Ein Sieg vor Gericht ebnete «Reggina 1914» die offizielle Rückkehr zu den Wurzeln, sodass der gewöhnungsbedürftige Name «La Fenice Amaranto» (der dunkelrote Phönix) wieder aus der Historie der 2023 zwangsrelegierten Kalabrier verschwindet.
Für das Heimteam fällt der Triumph mit dem 100-jährigen Jubiläum zusammen, der ob des Aufstiegs im Vorjahr umso beachtlicher ist. Damit endet für Siracusa die Spielzeit wiederum mit Feierlichkeiten in den umliegenden Strassen, obwohl es im Duell mit Reggio Calabria praktisch um nichts ging. Der Grund dafür liegt im italienischen Ligasystem: Aus der Serie D steigt einzig der Meister der jeweiligen Staffel auf, während die Zweit- bis Fünftplatzierten in mehreren Playoff-Runden lediglich ihre Klassierung in einer Schlusstabelle ausspielen, die im Falle insolventer Drittligisten die Reihenfolge für nachrückende Vereine regelt. Weil der erste Platz davon – anstelle der bankrotten US Ancona – in diesem Jahr vom sportlichen Abschneiden entkoppelt bereits dem Nachwuchs von Milan zugesichert wurde, bestand für Siracusa zu keiner Zeit eine realistische Chance auf den Durchmarsch.
Catania SSD - Atalanta BC II
Catania schloss in der Südstaffel der Serie C eine durchwachsene Saison auf Rang 13 ab. Dennoch waren die Jubelstürme der «Rossazzurri» nach dem Heimsieg am letzten Spieltag gegen Aufstiegsaspirant Benevento überschwänglich. Nicht nur, weil die Sizilianer damit die Playouts knapp verhindert haben, sondern weil ihnen die drei Punkte den Weg für die Playoffs ebneten. Die spezielle Situation gründet allerdings nicht auf einer engen Schlusstabelle. Das Startrecht für die Aufstiegsspiele hatte sich Catania durch den Gewinn der Coppa Italia der Drittligisten erkämpft, das sie laut Regelwerk allerdings nur wahrnehmen dürfen, wenn sie zum Saisonende nicht zu viel Rückstand aufweisen oder auf einem potenziellen Abstiegsrang stehen würden.
Der Weg von Palermo quer durch Sizilien ist von der Maut befreit, nicht aber von bröckelndem Asphalt und fragwürdigen Stop-Signalen an den Zufahrten zu Schnellstrassen. Die Landschaft ist schön und bergig, bisweilen aber auch karg und trocken. Verruchte Häuserblocks, von Sonne und Meerluft verblichene Motorhauben und Jungspunde auf Vespas, die waghalsig über das Kopfsteinpflaster düsen, kündigen nach drei Stunden Fahrt erste Ausläufer Catanias an. Die 300’000-Einwohner-Stadt ist bekannt wegen des Ätnas und berüchtigt wegen der Cosa Nostra, der sizilianischen Mafia.
Auch auf fussballerischer Ebene hat der Ort an der Ostküste des Ionischen Meeres eine besondere Stellung inne, die auf Vorkommnisse im Februar 2007 zurückgeht: Beim Derby zwischen Catania und Palermo kommt es zu Ausschreitungen, nachdem die heimischen Anhänger die Niederlage gegen den Erzrivalen nicht auf sich sitzen lassen wollen. Im Verlauf des mehrstündigen Schlagabtauschs findet mit Filippo Raciti ein Chefinspektor der Polizei den Tod. Mit dem damals 17-jährigen Antonio Speziale wird ein Verantwortlicher dafür ausgemacht, über dessen Schuld die Meinungen bis heute weit auseinandergehen. Fakt ist: Das Jugendgericht von Catania hatte «Antonino» damals zu 14 Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt, im Dezember 2020 verliess Speziale das Gefängnis endgültig. Die Einführung der «Tessera del tifoso» in den Folgejahren hängt auch mit diesem Vorfall zusammen und läutete im nationalen Fantum eine neue Zeitrechnung ein.
Über eine Dekade später versuchen sich die italienischen Kurven noch immer von jenen Repressionen zu erholen – oder haben gelernt, damit umzugehen. Auch an diesem Abend im «Stadio Angelo Massimino» gibt es Momente, die mich die Zustände in Zeiten vor der Fankarte erahnen lassen. In Catania sind dafür zwei Stimmungszentren verantwortlich: Die kleinere Curva Sud mit dem sehenswerten Material und den historischen Gruppen «Falange D’Assalto», ihrem verstorbenen Anführer «Ciccio Famoso» oder den «Irriducibili» und gegenüber die grössere und stimmgewaltigere Curva Nord. Dort beginnt der Abend mit einer inbrünstigen Ansprache eines Capos. Ein Zeichen von Mentalität, auch wenn Videos in sozialen Medien aus den ersten Reihen dieser Kurve immer wieder die Frage aufkommen lassen, wie ehrlich die Italiener ihre eigene Subkultur eigentlich noch ausleben. Weitere kleinere Splittergruppen sind an beiden Enden der Gegentribüne zu finden.
Wie Palermo hat auch Catania eine Zwangsrelegation in die Serie D und eine Umbenennung – hin zum Namenszusatz «Società Sportiva Dilettantistica» (SSD) – hinter sich. Dank eines Sieges in der Lombardei stiegen die Aufsteiger mit einer komfortablen Ausgangslage ins Rückspiel. Selbst eine Niederlage mit einem Tor Differenz würde ihnen für das Weiterkommen genügen, da bei Gleichstand der Coppa-Sieger von beiden Playoff-Teilnehmern höher eingestuft wird. Obwohl die erste Mannschaft der Bergamasken zeitgleich in Lecce spielte, blieb den Atalanta-Fans ein Spielbesuch auch von offizieller Seite verwehrt. So bevölkerten stattdessen italientypisch tausend Kinder lokaler Fussballschulen den Gästeblock. Gemeinsam mit den 19’739 Zuschauern sahen sie, wie die Sizilianer lange die Feldüberlegenheit innehatten, in der Nachspielzeit das 0:1 kassierten, den Rückstand aber mit Mühe über die Zeit zu retten vermochten und sich so für die nächste Runde qualifizierten.