Peterborough United - Barnsley FC
Eine Stunde nördlich von London liegt Peterborough, das seinen Namen als auch die prunkvolle normannische Kathedrale aus dem Mittelalter dem heiligen Petrus verdankt. Das zweite sehenswerte Bauwerk in der 220’000-Einwohner-Stadt ist auf der südlichen Uferseite des Flusses Nene an der namensgebenden London Road zu finden. Es handelt sich um das Stadion des lokalen Fussballklubs, bei dem besonders die Haupttribüne mit ihren Holzbänken und dem Giebeldach aus Wellblech in Zeiten moderner Multifunktionsarenen für willkommene Abwechslung sorgt.
Dies, obwohl das hier beheimatete Peterborough United den Übernamen «The Posh» (Die Noblen) trägt. Tatsächlich schwingt bei dieser Bezeichnung Sarkasmus mit, zumal sie auf die Aussage eines Trainers in der Anfangszeit zurückgeht, der einen «noblen Klub» mit «noblen Spielern» formen wollte – stattdessen ging Peterborough United wenige Jahre später bankrott. Etwas mehr Bescheidenheit hätte auch Victoria «Posh Spice» Beckham nicht geschadet, die 2002 beim britischen Patentamt mit einer Gegenklage auf den Antrag des Klubs reagierte, als dieser den Spitznamen «Posh» für kommerzielle Zwecke registrieren wollte. Das ehemalige Spice Girl blieb mit seiner Klage erfolglos.
Kaum Erfolge verzeichnet auch Peterborough United, das nach einer Spielzeit in der 2. Liga seit 2022 wieder in der drittklassigen League One antritt. Eine Ausnahme stellt der Gewinn der EFL-Trophy dar, den Pokalwettbewerb der Dritt- und Viertligisten sowie der oberklassigen Reserveteams, bei dem Peterborough den Titelverteidiger stellt. In der Liga kommen die Blau-Weissen hingegen auch zum Jahresabschluss nicht auf Touren: Gegen Barnsley werden die 9404 Zuschauer – ausverkauft ist das Stadion meist nur im Derby gegen Cambridge – für ihr Kommen nicht belohnt. Nach einem schwachen Start in die zweite Halbzeit vermiest ein unglücklicher Platzverweis den Gastgebern die Aufholjagd, sodass ihr Maskottchen «Peter Burrow» beim 1:3 nur einmal euphorisch an der Seitenlinie entlangrennen und seine Karotte frenetisch durch die Luft schwingen kann.
Soul Tower Hamlets - Clapton CFC
«Im East End fanden sie einen tief verwurzelten Zusammenhalt und starkes Misstrauen gegenüber Fremden und Autoritätspersonen.» Mit diesen Worten beschreibt der britische Fernsehsender BBC die Wahl für den Namen ihrer vielfach ausgezeichneten Serie «EastEnders», die seit 40 Jahren vom Alltag fiktiver Bewohner im Osten von London erzählt, deren Heimat längst zum nationalen Synonym für sozial unterprivilegierte Stadtgebiete oder Arbeiterviertel avanciert ist.
Tatsächlich wirkt die Gegend, in der einst Jack the Ripper oder die Kray-Zwillinge Angst und Schrecken verbreiteten, auch heute noch wenig einladend. In der Dämmerung ziehen Jugendgruppen durch die Seitenstrassen und von den öffentlichen Mini-Fussballfeldern sind teils heftige Wortgefechte zu vernehmen. Auch im Pub reicht ein energisches «Alice» eines verwahrlosten Mittdreissigers, um die Dame hinter dem Tresen zu animieren, ihm einen Drink zu spendieren. Diesen schlürft er lautstark und verlässt kurz darauf wortlos die leere Bar – nicht aber, ohne uns noch kurz auf die Schulter zu klopfen.
Im East End ist auch der Soul Tower Hamlets FC beheimatet. Der etwas sperrige Name entspringt einer Fusion zwischen dem Soul FC und den bekannteren Tower Hamlets, die sich auf den gleichnamigen Stadtteil berufen. Das Zuhause des Zehntligisten stellt das Mile End Stadium dar, welches – für England untypisch – über eine Laufbahn sowie eine kleine Tribüne verfügt. Richtig eng wurde es im Osten der Hauptstadt nur einmal vor dreissig Jahren, als die Band «Blur» vor knapp 30‘000 Zuschauern ein Konzert spielte. An diesem Samstag ist die Kulisse mit 327 Zuschauern ebenfalls überdurchschnittlich. Grund dafür ist das Derby in der «Southern Counties East League Division One», welches die Soul Tower Hamlets gegen den fangeführten Clapton CFC austragen. Ähnlich wie in Manchester oder Wimbledon hatten hier Fans, die sich mit dem Clapton FC nicht mehr identifizieren konnten, ihren eigenen Klub mit dem Zusatz «Community» ins Leben gerufen und begleiten diesen seither durch den Ligaalltag im englischen Unterhaus. Beim 2:1-Sieg für die Gastgeber steigen ihre Gesänge zur Melodie von «Dirty Old Town» wie eine Ode ans Londoner East End an den hinter dem Spielfeld im Nebel versinkenden Hochhäuser der Docklands empor.
Fortuna Sittard - Twente Enschede
Starker Regenschauer und eine zügige Bise erinnern uns in Sittard daran, dass es Ende November angenehmere Tätigkeiten an einem Samstagabend gibt, als auf einer nassen Sitzschale im Freien auszuharren. In der 38‘000-Einwohner-Stadt unmittelbar hinter der deutschen Grenze hält sich der lokale Erstligist seit sechs Jahren in der höchsten Spielklasse der Niederlande. Erstmals steht der kleine Klub halbwegs souverän in der vorderen Tabellenhälfte und darf als Siebter der Eredivisie mit breiter Brust den FC Twente aus Enschede empfangen.
Trotz des ansprechenden Saisonverlaufs hält sich die Stimmung beim Heimanhang rund um die «Tifosi Giallo Verde» – früher als «TGV Boys» bekannt – in Grenzen. Die Versuche, die 9013 Zuschauer in den Support miteinzubeziehen, wirken ähnlich unglücklich wie die grün-gelbe Farbkombination des Klubs im Zusammenhang mit den zu grossen Teilen blau-gelben Sitzschalen des Stadions.
Am lautesten wird es nach einem langen Abstoss von Fortuna-Goalie Mattijs Branderhorst, der zur Vorlage für den zwischenzeitlichen Ausgleich avanciert. Dass am Ende dennoch die 800 Anhänger im Gästeblock jubeln dürfen, verdankt Twente dem ehemaligen Basel-Stürmer Ricky van Wolfswinkel. Dem Siegtorschützen zum 1:2 aus Sicht der Gastgeber widmen die Gästefans prompt ein eigenes Lied. Zwar fehlen den meisten ihrer Gesänge noch die inhaltliche Tiefe, doch die Freundschaft zur renommierten Fanszene des FC Schalke 04 scheint auch in diesem Zusammenhang langsam ihre Früchte zu tragen.
KFC Uerdingen - MSV Duisburg
Der «Grotifant» trottet traurig in die Kabine, sein KFC-Fähnchen hat er zusammengerollt, den Kopf hält er gesenkt. Dabei stand das Krefelder Maskottchen zwei Stunden zuvor noch wild gestikulierend am Spielfeldrand, als wären für einmal die Elefanten auf Zebrajagd. Zwischen den beiden Momentaufnahmen liegen zwei Stunden und ein verlorenes Lokalduell, das der KFC Uerdingen gegen den MSV Duisburg innert drei Minuten aus der Hand gegeben hatte. Während des Doppelschlags auf dem Platz zum 1:2 waren sich auch mitten auf der Haupttribüne einige Ehrengäste in die Haare geraten.
Als Aussenstehender passte diese Szenerie zum KFC. Bereits die zwölfminütige Verspätung beim Anpfiff aufgrund eines technischen Defekts hatte gezeigt, dass hier vieles anders läuft: An jedem Flutlicht brennen unterschiedlich viele Lampen, im Medienraum wird dünner Filterkaffee serviert und auf den Stehtraversen sorgt einzig das nasse Herbstlaub für halbwegs farbliche Lebensfreude. Trotz den zu grossen Teilen gesperrten Hintertotribünen vermeldet der KFC ein mit 10‘000 Zuschauern ausverkauftes Regionalliga-Heimspiel.
Einen kleinen Sieg im «Stadtteilderby» gegen Meiderich hatte Uerdingen bereits vor Anpfiff gefeiert, als die Gastgeber erstmals in dieser Saison mit einem Sponsor auf der Brust aufliefen. Diese schien mit der Neuheit gleich noch breiter, sodass der KFC verdient mit einer Führung in die Pause ging und sich auch nicht über die Unterstützung von den Tribünen, wo Freunde aus Venlo und Graz ihrem Anhang zur Seite standen, beklagen konnte. Erst mit dem erwähnten Doppelschlag erlangte der Tabellenführer aus Duisburg die doppelte Vorherrschaft: Während die MSV-Akteure ihre Ausdauer unterstrichen, vermochte der Kern der blau-weissen Fanszene, unterstützt von Vertretern der Ultras Mainz, der Brigata Tifosi von De Graafschap und Anhängern der Colectivo Ultras 95 des FC Porto, nun vermehrt den Grossteil der fünftausend Gästeanhänger in ihre Gesänge einzubinden.
Während die spielerische Geschichte an diesem kalten Herbstnachmittag schnell erzählt ist, stellt die Aufschlüsslung der Vereinsgeschichte des KFC unbestritten den Opus magnum eines jeden Groundhoppers und Hobbyhistorikers dar. Für Diskussionen sorgen bereits der Vereinsname als auch die Herkunft, schliesslich trägt der Klub sowohl den Namen seiner Stadt als auch den eines Stadtteils in sich. Dass Uerdingen bereits 1255 und damit deutlich vor Krefeld (1372) das Stadtrecht verliehen bekam, befeuert die Diskussion zusätzlich. Die Tatsache, dass der Klub zwischen 1975 und 1995 mit dem Namen und Logo des nahegelegenen Pharmakonzerns auftrat, offenbart einen weiteren Nebenschauplatz in den wirren Annalen dieses Vereins.
Zu den Diskussionen rund um den Namen und die Herkunft gesellen sich sportliche und vereinsinterne Unbeständigkeit. Hatte Uerdingen 1986 mit dem Wunder von der Grotenburg noch den Einzug in den Halbfinal des Europapokals der Pokalsieger über den DDR-Vertreter Dynamo Dresden geschafft, fand sich der Klub 35 Jahre später in der fünften Liga wieder. Zwar kämpfte sich der KFC nach zwei Spielzeiten in der Ober- wieder in die Regionalliga hoch, doch leere Versprechen, strukturelle Misswirtschaft und finanzielle und menschliche Defizite gehören weiterhin zu den Begleiterscheinungen in der Anamnese des KFC. Mit Agissilaos «Lakis» Kourkoudialos oder Michail Ponomarew seien hierbei stellvertretend zwei Namen genannt, die den KFC als vermeintliche Heilsbringer an den Abgrund hievten und das Krankheitsbild des KFC in den letzten Jahren prägten. Wer weiss, ob statt des einstiges Klubnamens «Bayer 05 Uerdingen» nicht viel eher die überstrapazierten Nerven der KFC-Anhänger dafür verantwortlich sind, dass die Fanszene ihre Gedanken und Erfahrungen in einem Fanzine mit dem Titel «Beipackzettel» bündelt.
Gresik United - Deltras FC
Nach zwei Partien in Solo – darunter ein Heimspiel der PS Sleman im Exil – bot sich eine Weiterreise nach Ost-Java an, wo es zum Derby zwischen Gresik United und den Deltras Sidoarjo kommen sollte. Von dieser Idee liessen sich nebst meinem Fahrer Tito mit Panji und Yanuarisnan zwei weitere Personen aus dem Kern der Brigata Curva Sud begeistern. Damit das Quartett am Folgetag zeitig und ausgeschlafen in Richtung Osten aufbrechen konnte, offerierte ich allen Mitfahrern ein Hotelzimmer in Solo. Pures Wunschdenken, wie ich am nächsten Morgen in der Hotellobby erfahren sollte, als mir Panji die Aussage des schelmisch grinsenden Tito übersetzt, dass sie direkt nach der Partie wieder zurück nach Sleman gefahren seien und die Nacht und Niederlage im Alkohol ertrunken hätten.
Die kurvigen Strassen, auf denen sich unsere Reisegruppe den Weg durch das Landesinnere an die Küste bahnt, sind nichts für flaue Mägen und schwache Nerven. Obschon Tito einer der offensivsten Verkehrsteilnehmer darstellt, ist er auch einer der aufmerksamsten und beeindruckt mehrmals mit wahnsinnigen Reflexen beim Ausweichen von Lastwagen, die in blinden Kurven plötzlich auf unserer Spur auftauchen. Trotz Müdigkeit lenkt er das Gefährt sicher nach Tuban, wo er während der Partie etwas Schlaf nachholen will. Dies obwohl Danial die gesamte Reisegruppe ans Spiel einlud. Eine äusserst nette Geste des Funktionärs von Gresik United, der sich damit dafür bedankte, dass ich ihm vor Jahren einmal bei seiner Masterthesis zu den Strukturen europäischer Fussballklubs geholfen hatte.
Tickets waren an diesem Montagnachmittag allerdings kein rares Gut, da der Verband und die Polizei auch diesem einst vielversprechenden Zweitliga-Derby mit einer Anstosszeit unter der Woche und an einem neutralen Ort den Zahn gezogen hatten. Weiter heisst es in Tuban, zwei Stunden von Gresik entfernt, ebenfalls «Tanpa Penonton Tamu», sodass unter den 2971 Zuschauern keine Gästefans weilen. Zumindest dieses Verbot ist nachvollziehbar, war es beim letzten Duell zwischen den beiden Städten, die nördlich (Gresik) und südlich (Sidoarjo) von Surabaya liegen, doch zu heftigen Ausschreitungen gekommen.
Ohne den Gegenpart auf den Rängen vermögen die «Heimfans» ihr grosses akustisches Potenzial nicht abzurufen. Lange Zeit fehlt im spärlich gefüllten Stimmungsblock gar ein Vorsänger, sodass einzig der Ausgleich von Sidoarjo in der Nachspielzeit zum 1:1 sowie das anschliessende Gerücht, dass vor den Stadiontoren einige Deltras-Anhänger gesichtet wurden, die für Indonesien typischen Emotionen hervorzurufen vermögen. Auch die Ultras Gresik, die 1999 als erste Gruppierung in Indonesien den bekannten Zusatz im Namen aufwiesen, existieren nicht mehr. Am ehesten noch erinnern einige Zaunfahnen im Stil der Boys Parma an die starke italienische Prägung dieser historischen Kurve.
Als Tito und Yanuarisnan nach dem Schlusspfiff verspätet und in Feierlaune am Tuban Sport Center vorfahren, ahne ich bereits Böses. Natürlich hatten die beiden in der Zwischenzeit kein Auge zugemacht und stattdessen mit der lokalen Sektion der Brigata Curva Sud zusammengesessen, Nelkenzigaretten geraucht und Arrak getrunken. Es gibt definitiv angenehmere Situationen, als mit einem angetrunkenen und übernächtigten Fahrer die sechsstündige Heimreise zu bestreiten. Spätestens als sich Tito über die grellen Lichter auf der Gegenfahrbahn beschwerte und ihn sein Beifahrer sowie treuer Trinkkumpane Yanuarisnan zu besonders waghalsigen Überholmanövern anspornte, war auch für mich der Moment gekommen, wie Sitznachbar Panji die Augen zu schliessen und mich dem Schicksal zu ergeben.
Adhyaksa FC - Persijap Jepara
Der Wutanfall von Persiraja-Spieler Andik Vermansyah im Duell mit Pekanbaru sollte gleich zwei Parteien teuer zu stehen kommen: einerseits seinen Klub aus Banda Aceh, der für die anschliessenden Rudelbildungen mit vier Geisterspielen sanktioniert wurde, und andererseits meine Wenigkeit, die eine Reise in den Norden Sumatras bereits gebucht hatte. Das Derby gegen Medan ohne die Unterstützung von den Rängen zu besuchen, war mir den langen Flug nicht wert, zumal Persiraja als Antwort auf die Strafe kurzfristig den Austragungsort wechselte und nicht das sehenswerte Stadion Harapan Bangsa bespielte.
Die vorherigen Besuche in Indonesien hatten mich aber gelehrt, stets einen Plan B bereitzuhalten. Das Stadion Sriwedari in Solo (Surakarta) ist zumindest aus architektonischer Sicht eine wertige Alternative, schliesslich handelt es sich hierbei um eine denkmalgeschützte Spielstätte, die über eine Tribüne mit Massivholzbänken im VIP-Bereich und ein Giebeldach verfügt. Mit dem Baujahr 1932 stellt das Stadion eines der ältesten des Landes dar und gar das erste, das nicht unter niederländischer Kolonialherrschaft erbaut wurde. Die von Bäumen gesäumten Stehtraversen erinnern an die Heimat von Slavia Sofia und lassen das Herz eines Fussballromantikers höher schlagen.
Der Verband hatte der Allgemeinheit zwar auch den Besuch der Zweitliga-Partie in Solo untersagt, die fragwürdige Massnahme stellte für mich dank Edwin Klok aber kein Hindernis dar. Mit dem Niederländer, der seit vielen Jahren in Indonesien lebt, tausche ich mich regelmässig über den lokalen Fussball und seine Fanszenen aus. Der frühere Sportchef des lokalen Erstligisten Persis schleuste mich denn auch problemlos an der Polizei vorbei ins Stadion, wo der Schiedsrichter eine halbe Stunde später als angekündigt anpfiff. Gestört hat es niemanden, genauso wenig wie die Tatsache, dass bis zur Halbzeit insgesamt 243 Zuschauer das Stadion betreten hatten und damit die Inkonsequenz der indonesischen Exekutive beispielhaft unterstrichen. Einzig die in kleiner Zahl angereisten Persijab-Fans wurden von den Ordnungshütern konsequent vom Eingang ferngehalten, sodass sie sich nach einiger Zeit mit der Aussicht von einer Mauer gegenüber begnügen. Edwin, der mittlerweile als Assistent des Technischen Direktors bei Persik Kediri im Osten Javas amtet, musste schmunzeln und beschrieb die Anhänger passend als «Walltras».
Das Drumherum sowie die Gespräche mit dem Kollegen aus Deventer waren denn auch deutlich unterhaltsamer als das lahme Treiben auf dem Rasen. Bei 37 Grad sündigte das Heimteam mehrfach, sodass es sich über das 0:1 gegen Jepara nicht beklagen durfte. Ausgeglichen präsentierte sich hingegen die Zahl der Aluminiumtreffer und der Platzverweise – immerhin ein wenig Gerechtigkeit für Adhyaksa, der Mannschaft der indonesischen Staatsanwalt. Diese stieg auf diese Saison hin in die zweite Liga auf und stammt eigentlich aus Kelapa Dua im Bezirk Tangerang in West-Java. Weil den «Prosecutors» in einem Land mit antiautoritär geprägter Zivilgesellschaft aber sowieso kaum jemand die Daumen drückt, spielt die Mannschaft aus Kostengründen im Exil.
Ich habe mir einen kleinen Traum erfüllt und die indonesischen Highschool-Meisterschaften besucht. Bei den Basketball-Partien der Mädels und Jungs sorgen die jeweiligen Mitschülerinnen und Mitschüler für ordentlich Stimmung – und überzeugen mit aufwendigen Choreografien. pic.twitter.com/M5BzprDiAS
— Musim Panas Bersama Sleman (@esms_official) October 31, 2024
Persipa Pati - Persikas Subang
«I chose not to sleep», meint Radhifan, als ich mich am Morgen auf dem Hotelflur nach seinem Wohlergehen erkundige. Viele Indonesier sind nachtaktiv und legen nach einem gemächlichen Start meist bis in die späten Abendstunden grosse Ausdauer an den Tag – allerdings nur selten im Arbeitskontext. Immerhin gestaltet sich der heutige Auftakt gemächlich, schliesslich liegt Patinggo, das lediglich Pati genannt wird, nicht weit entfernt in nordöstlicher Richtung.
Die 100‘000-Einwohner-Stadt ist wie Kudus Heimat eines Zweitligisten. Im Unterschied zu Persiku trägt Persipa seine Partien auf künstlicher Unterlage aus, die in Indonesien auf dieser Stufe gerade noch erlaubt ist. Allgemein ist dem Klub anzumerken, dass er aufgestiegen ist. Wie mir der Medienchef verrät, wurde Persipa noch in der Drittklassigkeit von seinen Supportern geführt, die seit dem Aufstieg schrittweise den Gang von den Tribünen in die Vereinsetage angetreten haben. So zeigen sich die beiden Klubfotografen ob der Präsenz des bekannten «Tito Klasik» von der grossen Brigata Curva Sud aus Sleman fast noch euphorischer als über die ebenfalls sehr seltene eines «Bule» (Ausländer).
Während ich in der prallen Sonne am Spielfeldrand stehe, hat Tito über den Berater des Persipa-Captains, der aus der Akademie von PSS stammt, für den Rest der Reisegruppe Tickets für die Ehrentribüne organisiert. Doch nicht nur die Hitze und die Anstosszeit an einem Montagnachmittag, sondern auch die bescheidene sportliche Ausgangslage sorgen dafür, dass die Tribünen im Stadion Joyokusumo nur spärlich gefüllt sind. In der zweiten Division der zweiten Liga steht Persipa derzeit auf dem zweitletzten Platz, einzig der heutige Gast aus Subang ist schlechter klassiert und hat in der laufenden Saison noch gar kein Spiel gewonnen. Ein Sieg ist für die Gastgeber vor 442 Zuschauern deshalb Pflicht. Auf zusätzliche Motivation von den Rängen dürfen sie sich bei diesem Krisengipfel allerdings nicht verlassen: Sowohl die Mania «Resimen Patifosi» auf der Nordtribüne als auch die Ultras der «Patifosi Tribun Selatan» gegenüber befinden sich aufgrund der enttäuschenden sportlichen Ergebnisse im Boykott.
Ein wenig nachvollziehbares Verhalten, schliesslich überrascht die Platzierung des Aufsteigers in der noch jungen Saison nicht wirklich und genau in solchen Spielen braucht das Team besondere Unterstützung. Hier aber erntet ein älteres Mitglied der Mania stattdessen Spott von den anderen Tribünen, als es zusammen mit ein paar jungen Pati-Anhängern versucht, nach dem Tor zum 1:0 den Boykott in Eigenregie aufzuheben. Immerhin: Weil in der Folge kein Treffer mehr fällt, zeigt sich die Fanszene Patis versöhnlich und versammelt sich nach dem Schlusspfiff hinter den Stadionmauern und feiert die drei Punkte mit lautstarken Gesängen.
Persiku Kudus - PSIM Jogjakarta
Weil das in Indonesien seit der Kanjuruhan-Tragödie verhängte Verbot für Gästefans auch für die Partie zwischen Sleman und Barito Putera (einem kleinen Klub aus Borneo) im nahegelegenen Exil in Bantul greift, steht einem dreitägigen Roadtrip mit Führungsleuten der Brigata Curva Sud (BCS) als Alternative nichts im Weg. Nebst Radhifan, der am Vorabend nach den zuletzt schlechten Leistungen mit dem PSS-Captain noch ein Hühnchen gerupft hatte und aufgrund seiner Statur von allen nur «Kebo» (Büffel) gerufen wird, sind Fahrer Tito, der als Mittdreissiger die alte und junge Generation verbindet, und Nanda mit von der Partie, der von Tito angelehrt wird und schrittweise in dessen Fussstapfen tritt. Zumindest im Strassenverkehr hoffe ich jedoch nicht, dass er Tito nachzuahmen versucht. Dieser treibt den Toyota Avanza immer wieder hochtourig und lässig rauchend links an der stehenden Kolonne vorbei über die staubigen Schotterpisten in Richtung Kudus.
Dennoch erreichen wir die 100‘000-Einwohner-Stadt im Norden der Insel Java sicher und früh genug, damit es mir noch zu einem Stadtrundgang reicht. Die starke islamische Prägung lässt sich hier primär anhand der grossen Moschee erkennen, welche die einzige klassische Sehenswürdigkeit darstellt. Wie so oft in wenig touristisch erschlossenen Regionen Indonesiens bietet das Alltagsleben in den Seitengassen daneben aber mehr Unterhaltung, während der Rest der Reisegruppe mit Schnapsflaschen bewaffnet im Hotelzimmer die Vereidigung des neuen Präsidenten Prabowo Subianto verfolgt. Als ich dort eintreffe, hat sich die BCS-Sektion Kudus zum Trio gesellt. Meinen Wunsch, mich nach dem europäischen Abendessen vom Vortag (im Anschluss an einen weiteren Spielbesuch bei Persis Solo) doch bitte nicht wie einen Backpacker zu behandeln, nimmt die Gruppe beim Wort und schleppt mich stattdessen zur Markthalle. Hier gibt es definitiv lokales Essen und ich muss kurz wegblicken, als ich einige Ratten die Dachrinne entlangrennen sehe. Mit Tahu, Tempeh, Kailan, Nasi Pecel und Lumpia Sayur sowie dem Saft einer frischen Degan ist man als Tierliebhaber aber sowieso oftmals auf der sicheren Seite.
Der Grunddurchgang der zweiten Liga wird in dieser Saison in drei Gruppen ausgetragen. Zur zweiten Staffel zählt auch Persiku Kudus, das mit dem Tabakkonzern «PT Djarum» einen lokalen und finanzstarken Unterstützer aufweist, stammt doch Gründer Budi Hartono aus der Region und gewährleistet über suchtmittelferne Subunternehmen – ähnlich wie bei Como Calcio – den nicht versiegenden Geldfluss. Die Partie gegen den Klub aus Jogjakarta ist für den Aufsteiger ein Highlight, weist PSIM nebst einer grossen Historie doch auch einen berüchtigten Anhang auf. Dies macht den Tag für unseren Fahrer Tito nicht gänzlich ungefährlich. Zwar gönnen sich die rivalisierten indonesischen Fanszenen seit dem Stadionunglück im Oktober 2022 eine Verschnaufpause, dem Anführer des Erzfeindes fern seiner Heimat über den Weg zu laufen, würden aber wohl auch sie nicht ungenutzt lassen.
Keine Gefahr geht hingegen von den heimischen «Suporter Macan Muria» aus, die sich bei der Namenswahl von einem nahegelegenen Vulkan und beim Wappen von einem Tiger inspirieren liessen, wie auf einer schönen Zaunfahne ersichtlich ist. Als beim Anpfiff eine kleine Gruppe an PSIM-Fans ins Stadion drängt, zeigt sich die Raubkatze aber harmlos und überlässt den Gästen kampflos den Rand ihrer Tribüne. Im Verlauf des Spiels bahnen sich weitere Anhänger aus Jogjakarta den Weg auf die Ränge, sodass der letzte Torjubel Gästefans an fünf Standorten – ausser im geschlossenen Gästesektor – lokalisieren lässt. Der Grossteil von ihnen hatte in der Halbzeitpause die Eingangskontrollen überlaufen und damit die eigene Anreise legitimiert. Dieser Realität sollte besser auch Verbandschef Erick Thohir ins Auge blicken, will er das Risikopotenzial in indonesischen Fussballstadien tatsächlich nachhaltig reduzieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Solidarität unter den beiden Fanlagern, boten vor der Partie doch einige Persiku-Fans den PSIM-Anhängern ihre Ausweise für den Abgleich am Stadioneingang an.
Auch auf dem Rasen zollen die heimischen Akteure der Gegenseite (zu) viel Tribut. Die defensive Ausrichtung bewahrt Persiku jedoch nicht vor einer 0:5-Pleite, die auch in der Höhe verdient ausfällt. Dies bestätigt nicht nur die Körpersprache von Seto, dem ehemaligen PSS-Trainer im Dienst von PSIM, sondern auch der Zynismus der Heimfans, die – um die eigene Vereinsführung zu verärgern – plötzlich anfangen, PSIM-Fangesänge zu intonieren. Zuvor war die Stimmung unter den 5178 Zuschauern aufgrund des Spielverlaufs und der lange Zeit abwesenden Gästeanhänger eher bescheiden ausgefallen.
Cercle Brügge - FC St. Gallen
Auf den Tag genau elf Jahre nach dem Europa-League-Auftritt in Swansea gastiert der FCSG wieder in einer europäischen Gruppenphase. Dies realisiere ich am Vorabend der Abreise, während ich – wie der Schüler von damals – meinen Reiseproviant packe. Wehmütig suche ich nach Parallelen und Entwicklungen – und stelle fest: St. Gallen ist noch immer eine kleine Stadt mit grossen Träumen, auch wenn sie im Vergleich zum Duell mit den Walisern auf internationaler Ebene mittlerweile einen Wettbewerb tiefer und gegen scheinbar weniger ruhmreiche Gegner zu Werke geht.
Dafür überzeugt mit Brügge – wie in den Runden zuvor – die Reisedestination. Zwischen «Vlaamse Frites», belgischem Hausbier und mit Schokolade überzogenen Waffeln dominiert in den Gassen um den Burgplatz und den «Grote Markt» am Spieltag bereits zur Mittagszeit die grün-weisse Glückseligkeit. Wer sich nicht den kulinarischen Versuchungen der 120’000-Einwohner-Stadt in Westflandern hingibt, geniesst bei bestem Herbstwetter den Blick vom Rosenkranzkai auf den Belfort, oder jener von der Bonifatiusbrücke auf die Liebfrauenkirche. Kein Wunder zählt das mittelalterliche Zentrum Brügges mit seinen Kanälen seit der Jahrtausendwende zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Weniger ästhetisch präsentiert sich die Spielstätte am westlichen Stadtrand. Von Beton dominiert, erinnert der Bau eher an das Stadion in Salerno als an einen renovierten Austragungsort der EM 2000. Weil sich nebst der belgischen Regierung bei den damaligen Renovationskosten auch die Flämische Gemeinschaft beteiligte, trägt die Heimat der beiden lokalen Erstligisten den Namen Jan-Breydel-Stadion, der auf Jan Breydel zurückgeht, der 1309 den städtischen Aufstand gegen den französischen König angeführt hatte.
Wie die Ostschweizer spielt auch Cercle in dieser Saison die bisher längste Europapokal-Kampagne seiner Geschichte, die bis ins Jahr 1899 zurückreicht. Trotz der überschaubaren Anhängerschaft ist der Klub ein wahrer Traditionsverein, was auch die Matrikelnummer 12 belegt, die jeder belgischer Fussballklub vom Verband auf Basis seines Gründungsjahres zugewiesen bekommt. Auch der Trophäenschrank der Belgier ist ähnlich leer und verstaubt wie jener des FCSG, liegen die einzigen drei Meistertitel – nebst zwei Pokalsiegen – doch fast ein Jahrhundert zurück. Für frischen Glanz sollte vor zwei Jahren das Rebranding durch eine lokale Agentur sorgen, die das bereits gewöhnungsbedürftige Klubwappen mit einem Kalligramm im schrillen Grünton aber weiter verunstaltet und die Fangemeinde damit entrüstet hatte. Diese spielt – wie auch der Klub selbst – in der Stadt hinter dem Rivalen Club Brügge nur die zweite Geige. Der Name von Cercle geht auf die Gründerväter zurück, die sich der Bedeutung des französischen Wortes für «Kreis» im Kontext einer «Gemeinschaft» bedienten.
Für den FC St. Gallen und seine 1500 mitgereisten Fans, die sich nach den gelungenen Auftritten in der Qualifikation zur Conference League auch zum Auftakt der Ligaphase Chancen ausgerechnet hatten, setzte es in Brügge einen herben Dämpfer ab. Die Grün-Weissen schienen die Belgier nach deren bescheidenem Saisonstart unterschätzt zu haben und die Partie war nach der frühen Führung vor 5395 Zuschauer bereits nach wenigen Minuten entschieden. Bis zum Schlusspfiff schraubte Cercle das Verdikt auf 6:2 Tore. Immerhin bleiben dem FC St. Gallen dieses Mal gleich fünf Partien Zeit für eine Korrektur.
Zaungast #10: Im Wandel der Zeit
Vom Wandel der Zeit – bei einem gross gewordenen Klub und dessen Stadion, italienischen Fanszenen und bei mir selbst. Oder schlicht von Atalanta gegen Fiorentina im September 2024.
Je erfolgreicher Atalanta spielte, desto weniger begann ich mich für den Verein zu interessieren. Und das, obschon mein Interesse an der Göttin (Dea) aus Bergamo einst den Darbietungen der Norditaliener auf dem Rasen entsprang. Später waren es nebst der Fanszene das Stadion oder die Art, wie der Klub und seine Nachwuchsabteilung geführt wurden, mit denen ich sympathisierte. Spätestens mit der Verkauf der Mehrheit der Anteile an eine US-amerikanische Investorengruppe und dem Umbau des Stadions fielen diese Aspekte wieder weg.
Statt den Sieg im Europacup zu feiern, dachte ich sehnsüchtig an die Schmierereien am Kassenhäuschen hinter der Curva Nord zurück, an die Zeiten, als oberhalb des Gästeblocks noch die Ausläufer der Altstadt zu sehen waren. An die wackeligen Stufen der Curva Pisani, mit Gürtel bewaffnete Gäste-Ultras in den geöffneten Türen ausgedienter Linienbusse, die über die Piazzale Oberdan rasten oder an die «Lacrimogeni», welche die DIGOS auf der Viale Giulio Cesare um die Ohren geworfen bekamen.
Geht es generell um italienische Fanszenen, romantisiere ich aber auch mit Aspekten, die ich mir für jene Kurve, die ich selbst frequentiere, nicht wünsche: etwa einen barfüssigen, zugekifften Vorsänger mit Rastafrisur, der erst fünf Minuten nach Anpfiff im Gästeblock eintrifft. Auch verkläre ich alte Zeiten – insbesondere die 1990er-Jahre, welche ich selbst nur von Bildern und aus Erzählungen kenne. Denn auch vor dem Tod von Filippo Raciti und Gabriele Sandri war in Italiens Fanlandschaft nicht alles besser und die Stadion stets voller oder farbenfroher. Im Gegenteil: Das San Siro ist in den letzten Jahren so gut ausgelastet wie einzig in den Jahren rund um die Heim-WM, auch wenn die Curva Sud heute kaum mehr an eine italienische Fankurve erinnert und nicht nur in der Lombardei gedruckte Fahnen längst dazugehören.
Auch in Sachen Vereinspolitik und Öffentlichkeitsarbeit haben deutschsprachige Fanszenen und -bündnisse den Italienern den Rang abgelaufen. Dabei zählten die Fans aus Bergamo – gemeinsam mit ihren Erzrivalen aus Brescia und den einstigen Freunden von Sampdoria – 1995 zu den Vorreitern, die nach dem Tod von Vincenzo Spagnolo die Kräfte der italienischen Anhänger bündelten und an vorderster Front gegen den Artikel 8 oder personalisierte Tickets gekämpft haben. Heute tragen sie in Bergamos Nordkurve in den Wintermonaten eine Camouflage-Jacke, die es vom Verein zur Saisonkarte kostenlos dazu gab. Neben der Heimkurve ist ein Burger King eingezogen und der verbannte Claudio Galimberti (Bocia) züchtet Muscheln in Senigallia, einem Dorf an der Küste in den Marken. Knapp drei Jahre nach der Auflösung der Curva Nord hat noch immer keine neue Gruppe das Zepter übernommen und in der Curva Morosini gegenüber lancieren die wenigen Ultras beim ersten Spiel auf der umgebauten Tribüne das Intro zehn Minuten zu früh.
Dennoch sind die Ultras wenige Tage vor meinem Besuch die ersten, die nach den Überschwemmungen bereitstehen und in ihrer Stadt beim Aufräumen mitanpacken. Vor dem Spiel gegen die Fiorentina erinnern bei bestem Spätsommerwetter nur noch die dreckigen Caterpillar-Stiefel, mit denen sie am Baretto Civico stehen, an das Unwetter der vergangenen Tage. Auch dem Vorsängerpodest und der in Bolgare durchgeführten Abwandlung des traditionellen «Festa della Dea» haben sie Claudios Absenz zu Ehren den Titel «Per chi non può esserci» verliehen. Allgemein macht den gestandenen italienischen Fanlagern in Sachen Erinnerungskultur kaum jemand etwas vor. Das beste Beispiel dafür ist die nach Maurizio Alberti benannte Curva Nord aus Pisa mit ihrer einfühlsamen Ode an die (Un)sterblichen aus den eigenen Reihen. Auch Videoausschnitte aus den Kurven in Barletta, Chieti, Giugliano, Matera oder San Benedetto del Tronto sowie Napolis Aufritte am Roma Termini 2008 und vier Jahre später beim Jubeln über Edinson Cavanis Tor im Final der Coppa Italia lassen mich ein Stück weit verstehen, weshalb deutsche Pizza-Wurstel-Hopperultras mit den Billigairlines von Paderborn nach Brindisi reisen, den Fans aus Cerignola die Aussprache von Fürth beizubringen versuchen oder in Latinas Curva Nord dem Muskelkater trotzend den Jahn-Schal so lange in die Höhe halten, dass auch die Konkurrenz aus der Heimat via «Sport People» von der mentalitätsgeschwängerten, ostbayerisch-latinischen Fanfreundschaft erfährt.
In keinem Land verspüre ich in den Stunden vor einer Partie derartiges Kribbeln wie in Italien. Die Besuche in Bergamo sind für mich mehr als die 90 Minuten im Stadion: Durch die Altstadt von Bèrghem zu schlendern und dem ostlombardischen «accento troppo spiccato» zu lauschen, Casonsei (mittlerweile eher Scarpinocc) zu geniessen oder die knusprigen Salbeiblätter der Taragna-Polenta zusammen mit dem Branzi auf der Zunge zergehen zu lassen und mit dem wohligen Gefühl eines Aperol Spritz hinunterzuspülen, der die nervenaufreibende Anfahrt vorbei an den Mautstellen (Pòta!), dem Smog und der Industrie vergessen macht. Im Winter versetzen mich die Sonnenstrahlen im Rücken beim Blick auf die «Città Bassa» in Gedanken an den Strand in Lerici zurück und rufen dieselbe nicht greifbare Melancholie hervor wie Gazzelles Debütalbum «Superbattito» in Endlosschleife. Dass ich mit diesem Gefühl nicht allein bin, bezeugt die Band Pinguini Tattici Nucleari im Lied über ihre Heimat Bergamo: «Ti porto in centro e forse capirai che cosa intendo quando ti dico che sei bella come casa mia.»
Im umgebauten Stadion von Atalanta ragen die neuen Flutlichter wie ein glühendes Damoklesschwert über den beiden historischen Seitentribünen, stets bereit, dem Bau den letzten Hauch vergangener Tage zu rauben, sollte der Denkmalschutz einst aufgehoben werden. Immerhin: Zum Duell gegen Florenz, das Bergamo vor ausverkauften Rängen mit 3:2 gewinnt, hängt in der Heimkurve das erste Mal seit dem Ende der Curva Nord wieder eine Zaunfahne mit der Aufschrift «Ultras» – als hätten sie es geahnt.