Jeder Fussballfan kennt die Szene, als das bis dahin punktlose Benevento im Heimspiel gegen die AC Milan in der Nachspielzeit einen letzten Freistoss zugesprochen bekommt. In der Aufregung geht der aufgerückte Torhüter vergessen und bugsiert das Leder per Flugkopfball in die Maschen. Das kleine Städtchen in Kampanien fällt daraufhin so sehr in Ekstase, dass die Bewohner des nahegelegenen Napolis fürchten, der Vesuv breche nach 1944 ein weiteres Mal aus.

Beim Frühstück in Avellino plagen Cédric und mich jedoch andere Sorgen. Alles dreht sich um die Frage, wie unser Mietauto aus der Parklücke kommt. Zwar sind wir beide keine schlechten Autofahrer, doch die vorliegende Situation übersteigt jegliche Kompetenzen als Lenker. Während es in der Schweiz unvorstellbar wäre, anderen Verkehrsteilnehmern offensichtlich die Ausfahrt zu versperren, machen es die Italiener mit geschickten Manöver gar für mehrere Fahrzeuge gleichzeitig möglich. Ein erboster Geschäftsmann entpuppte sich schliesslich als unser Rätsels Lösung, indem er seine Hupe durchgehend betätigte, bis der Übeltäter entspannt zum Auto schlenderte und kurz darauf von seinem ungünstigen Parkplatz weichte. Um weitere Unannehmlichkeiten zu verhindern, pflanzten wir unser Gefährt bis zur Weiterfahrt nach Benevento an den Strassenrand und widmeten uns wieder der Nahrungsaufnahme.

Diese Anekdote lässt die Frage aufkommen, warum wir uns für ein Mietauto entschieden haben, zumal das heutige Etappenziel wiederum in weniger als einer Stunde Fahrzeit zu erreichen wäre. Der Grund liegt in der fehlenden Zuganbindung nach Neapel am Abend, sodass wir unseren Heimflug kurz vor dem morgigen Sonnenaufgang verpasst hätten.

Vielleicht ein erstes Indiz dafür, dass die Stadt ursprünglich Maleventum (Schlechtwind) hiess, ehe sie nach einer siegreichen Schlacht von den Römern „zum Guten“ umbenannt wurde. Ein gewisser Aberglaube blieb der Stadt mit 60’000-Einwohnern dennoch treu. So heisst es in einer Legende, dass sich hier einmal im Jahr die Hexen um einen besonders exponierten Baum treffen. Zumindest eine „Strega“ versteckt sich noch heute in den Kleiderschränken der Stadt, auf dem Trikot des heimischen Fussballclubs. Den Durchmarsch von der dritten Liga bis ins italienische Oberhaus konnte aber auch sie, trotz aller negativen Energien, nicht verhindern. Über den glücklichen Aufstieg selbst überrascht, meldete Benevento Calcio zu keiner Zeit Ambitionen in der Serie A an. So liegen die Kampanier kurz vor dem Saisonende abgeschlagen auf dem letzten Tabellenplatz. Dies trotz einiger namhafter Akteure im Kader, darunter beispielsweise der Franzose Bacary Sagna.

Vom Stadtkern wartet auf die 10’013 Zuschauer ein Fussmarsch von zwanzig Minuten bis zum Stadion. In der schönen Schüssel teilt sich die Heimkurve auf die beiden Ränge auf, wobei die kleinere Gruppierung „Teste Matte“ (Verrückte Köpfe) im Unterrang beheimatet ist. Wie so oft ist das leidliche Lied der Politik der Grund dafür. Die Trennung fällt umso mehr negativ ins Gewicht, wenn separates Programm durchgezogen wird und einem soliden Auftritt jegliche Ambitionen zu mitreissendem Support genommen werden. Auf dem Rasen zeigte sich die Heimmannschaft indes klar nicht auf der Höhe der Aufgabe und war mit dem Tempo der Bergamaschi zu jedem Zeitpunkt überfordert. Diese fuhren, unterstützt von zweihundert mitgereisten Tifosi, einen nie gefährdeten 0:3 Auswärtssieg ein. Die Nerazzurri konnten es sich gar leisten, einen Penalty in den Abendhimmel zu schiessen. Der Szene ging ein Entscheid per Videobeweis voraus. Vielleicht ein Verdienst der Hexen? Erfreulich auch die Tatsache, dass sich mit Remo Freuler ein Schweizer in den Torreigen einzutragen vermochte. Im Kampf um Europa sind die Norditaliener somit weiterhin vertreten.

Nach dem Schlusspfiff kreuzten wir exakt mit dem Car der Gäste am Flughafen Neapel auf. Während sie am selben Abend die Heimreise antraten, stand bei uns eine unbequeme Flughafennacht an. Das Highlight jener war unbestritten die Mannschaft von Udinese Calcio (auf dem Heimweg vom Spiel in Neapel), die uns bei ihrer nächtlichen Ankunft wohl für Obdachlose hielt. Anders kann ich es nicht erklären, dass mir ein älterer Herr aus dem Trainerstaff mit gutmütigem Gesichtsausdruck einen Schokoriegel, Früchte und Getränke zusteckte. So in etwa muss sich der blinde Bettler gefühlt haben, als er vom barmherzigen Sankt Martin ein Stück seines Mantels gegen die Kälte bekam.