Im Flugblatt der Curva Nord, das sich sinngemäss mit «Stures Dagegensein» übersetzen lässt, äussern die Ultras aus Carrara nicht nur Unmut über die trägen Diskussionen rund um ein neues Stadion, sondern rücken den Fokus auch auf ein ernstes Thema: Wenige Tage vor dem 1. Mai verunglückte der Steinbrucharbeiter Paolo Lambruschi tödlich. Nebst einigen persönlichen Worten bleibt im Text besonders der Satz «Man muss von der Arbeit leben, nicht sterben» im Gedächtnis.

Im Stadion wird ihm – unmittelbar nach Anpfiff und von den Fans initiiert – mit einer Schweigeminute und einem Transparent mit klarer Forderung gedacht: Stoppt den Tod am Arbeitsplatz! Worte, die nicht zufällig fallen, sondern tief in der Geschichte Carraras verwurzelt sind. Die Stadt, eingebettet in die Apuanischen Alpen, ist seit jeher mit harter, bisweilen lebensgefährlicher Arbeit verbunden. Die Steinbrüche hoch über der Stadt, in denen der berühmte Carrara-Marmor gewonnen wird, haben Generationen geprägt – und viele Leben gekostet. Noch heute sind hier rund 30 Abbaustätten in Betrieb, die über dem Talbecken von Fantiscritti in der Sonne wie Schneefelder leuchten.

Dass dieser Alltag nicht nur industrielle, sondern auch kulturelle Spuren hinterlässt, manifestiert sich im Stadtbild: Trottoirs, Sitzbänke oder Pflanzentöpfe – alles aus Marmor. Wer Michelangelos David-Statue aus Florenz kennt, staunt, wie selbstverständlich mit dem edlen Werkstoff umgegangen wird. Sogar das Stadt- und Vereinswappen, ein stilisiertes Rad, erinnert an die alten «carri», die Karren, mit denen die schweren Blöcke einst zur Verarbeitung hinab ins Tal gebracht wurden.

Auch im Gästeblock herrscht zunächst Schweigen. Der Grund für den Protest des Gruppen-Dreiergespanns «Quei Bravi Ragazzi», «Vecchie Brigate» und «Dag dal Gas» – die seit der Auflösung von «Avia Pervia» den Kern von Modenas Fanszene bilden – liegt aber in den zuletzt schwachen Leistungen des Teams sowie in der jüngsten Derby-Niederlage gegen Reggiana. Die Anhänger aus Reggio Emilia waren einst Verbündete Carraras, doch seit deren Akzeptanz der Tessera haben die Carrara-Fans diese Verbindung gekappt. Das Verhältnis zu Modena ist damit historisch belastet – aber dennoch von gegenseitigem Respekt geprägt.

Exakt gegenüber der Gästefans liegt der Stimmungskern Carraras, wo hinter den wenigen Sitzreihen überraschenderweise auch ein Baum auf dem Stadionareal steht. Die Curva Nord trägt den Namen von Lauro Perini, der 1979 die historische Gruppe «Commando Ultrà Indian Trips» ins Leben rief. Erst seit wenigen Jahren und dem erhöhten Zuschaueraufkommen sind die Ultras tatsächlich wieder in der Nordkurve beheimatet. Zuvor standen auch sie auf der Gegengerade, wo weitere kleinere Gruppen bestehen, die jedoch kaum in Erscheinung treten. Die Fanszene ist links geprägt und unterhält mit Sturm Graz ein herzliches Verhältnis, dessen Anhänger wiederum mit Carraras ehemaliger Freundschaft Pisa verbunden sind. Die stärkste Abneigung hegen die Carrarese-Fans gegenüber Spezia, die auch an diesem Nachmittag immer wieder besungen wird.

Sportlich erlebt der Verein derzeit ein Hoch: Nach 76 Jahren gelang dem Klub auf diese Saison hin der Aufstieg in die Serie B. Mit einem sehenswerten Kopfballtreffer in der 86. Minute zum 2:1 sicherten sich die Toskaner vor 4’194 Zuschauern wohl vorzeitig den Klassenerhalt. Eine beeindruckende Willensleistung, trotz Unterzahl nach wenigen Minuten aufgrund einer Notbremse des Goalies.