Auf dem Stadtsee trainiert eine Gruppe Ruderer unter den wachsamen Augen zweier Senioren, die in Socken und Sandalen gekleidet auf einer Bank schweigend ihr Bier trinken. Ein junges Ehepaar streicht den verrosteten Gartenzaun neu, im Park nebenan laufen die letzten Vorbereitungen für das abendliche Big-Band-Festival und vom Spielplatz dringt aufgeregtes Kinderlachen herüber. Das osteuropäisch-skandinavisch geprägte Alltagstreiben versprüht an diesem warmen Juni-Wochenende eine frühsommerliche Idylle in Siauliai.

Abgesehen vom einige Kilometer ausserhalb gelegenen Berg der Kreuze, einem katholischen Wallfahrtsort auf einem Hügelrücken mit über 200’000 Kreuzen, weist die Gegend in Norden Litauens wenig Sehenswertes auf. Einzig im Zentrum der 100’000-Einwohner-Stadt steht ein Schild, das auf das Spiel am Abend verweist. Doch auch der Fussball spielt in «Scheaulej», wie im restlichen Land, hinter dem Nationalsport Basketball nur eine Nebenrolle.

Die lokale «Football Academy» ist 2007 einer Fusion entsprungen und nicht mit dem FK Siauliai zu verwechseln, der über 10 Jahre in der höchsten Spielklasse spielte, ehe er sich 2016 aufgrund finanzieller Engpässe zur Auflösung gezwungen sah. Seither hat die ambitionierte FA Siauliai die Vorherrschaft inne und begrüsst zum Lokalduell gegen den FC Dziugas aus Telsiai in ihrer erst dritten Erstliga-Saison 510 Zuschauer im städtischen Stadion. Die Tickets werden auf Thermopapier gedruckt, dem Bier fehlt der Alkohol und die bescheidene Darbietung auf dem Rasen wird zusätzlich von langen Unterbrechungen durch den VAR entwertet. Immerhin fallen dank der überschaubaren Qualität bereits im ersten Durchgang vier Tore, wobei das Heimteam nach der frühen Führung gleich drei Gegentreffer verkraften muss.

Wie der FC St. Gallen tritt auch Siauliai in der Qualifikation zur Conference League an, was mich in ein Gespräch mit einem exzentrischen Vereinsfunktionär auf der Medientribüne verwickelt. Wir sinnieren gerade über den Schweizer Fussball («Why on earth would you name your team Young Boys?») und Traumlose auf europäischer Bühne, als die Gastgeber in der 86. Minute das 3:3 erzielen. Seine Freude währt bis tief in die Nachspielzeit, ehe er den stümperhaft verpassten Lucky Punch für Siauliai mit einem zerbrochenen Bierglas und dem Ausruf «fucking shit» quittiert.