«Wenn jemand sucht, dann geschieht es leicht, dass sein Auge nur noch das Ding sieht, das er sucht, dass er nichts zu finden, nichts in sich einzulassen vermag, weil er nur an das Gesuchte denkt, weil er ein Ziel hat, weil er vom Ziel besessen ist. Finden aber heisst: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben.» Das «Ding» oder «Ziel» in den Zeilen aus Siddhartha von Hermann Hesse verkörpert im Kontext des FC St. Gallen der Schweizer Cup-Pokal.
Gleich zwei Mal hatte Grün-Weiss in den letzten Jahren aufgrund der besessenen Sucherei auf Rang und Rasen das Finden vergessen und das Endspiel im Pokalwettbewerb verloren. Schmerzhafte Erinnerungen, sodass angesichts der 1/16-Final-Partie des FC St. Gallen in Montagnola, wo Hesse das zitierte Werk geschrieben hat, das Finden im Fokus stand.
Gefunden habe ich im kleinen Tessiner Dorf sowohl die Casa Camuzzi als auch die Casa Rossa mit ihrer wunderschönen Aussicht, in denen der Schriftsteller lebte und später seinesgleichen wie Thomas Mann oder Bertolt Brecht politisches Asyl bot. Noch vor Hesses Tod hatten sich mit Friedrich Pollock und Max Horkheimer auch ein Wegbereiter und ein Gründer der Frankfurter Schule nach ihrer Emeritierung in Montagnola niedergelassen. Auf dem nahegelegenen Friedhof erinnert ein unscheinbares Grab an den Nobelpreisträger Hesse.
Als unscheinbar lässt sich auch die Heimat des drittklassigen FC Paradiso bezeichnen. Das «Campo Pian Scairolo» liegt weit unterhalb des Dorfkerns im industriell geprägten Talboden und ist ein schlichter Kunstrasenplatz. Die Fertigstellung der geplanten Tribüne ist nach politischem Geplänkel rund um FCP-Präsident Antonio Caggiano unterbrochen, sodass die Anlage dem rasanten sportlichen Aufstieg der letzten Jahre hinterherhinkt. Seit der kleine Verein am Fusse des Monte San Salvatore 2017 sein 100-jährigen Bestehen gefeiert hat, durfte er über drei Aufstiege jubeln. Heute zählt er zum vorderen Mittelfeld der Promotion League, die er in seiner Debütsaison auf dem beachtlichen vierten Rang abschloss. Auch in der 1. Runde des Schweizer Cups wurde der FCP seiner Favoritenrolle gerecht, wenn auch der Sieg beim FC Schattdorf knapp ausfiel. Im Matchbericht liessen enttäuschte Schattdorfer verlauten: «Während die Trainer des FC Schattdorfs die Töggeli und Lätzli selbst auf dem Platz verteilten, bewerkstelligten dies auf Seiten des FC Paradiso nicht weniger als fünf (!) Assistenztrainer, während der Haupttrainer in reger Diskussionen mit seinem sechsten Assistenztrainer vertieft zuschaute.» Die sportlichen Ambitionen der Tessiner unterstreicht auch ein Blick in deren Kader, wo nebst dem ehemaligen FCSG-Akteur Mickaël Facchinetti mit Ezequiel Schelotto ein Routinier figuriert, der einst in der Premier League und in der Serie A im Einsatz stand.
Wenig überraschend bot der FC Paradiso den Ostschweizern vor 920 Zuschauern bei starken Böen mehr Paroli als noch der FC Malcantone in der ersten Cup-Runde, dessen Sportplatz auf der anderen Uferseite des Lago di Lugano zu finden ist. Bereits nach fünf Minuten ging der Aussenseiter in Führung, ehe die Gäste das Resultat zu einem 1:3 aus Sicht der Tessiner zurechtrückten. Durch das Weiterkommen im Pokal und in der Conference League dauert die Dreifachbelastung für den FCSG an. Um es mit einem – zugegeben pathetisch anmutenden – Ausschnitt aus Siddhartha zu sagen: «Nun beginnt sein Schicksal zu sprossen, und mit seinem das meine.»