Vor nicht allzu langer Zeit bestellte ich aus einer Laune heraus das Buch „Ultras Italien“ von Josef Gruber. Der Rapid-Fan bereiste um die Jahrtausendwende emsig den Stiefel und liess mich durch seine Erzählungen und Bilder von vergangenen Tagen in Italiens Fussballwelt träumen. Das Apulienderby zwischen Bari und Lecce sollte mich nach dem erfreulichen Aufstieg der Rot-Gelben endlich zurück in diese längst vergessene Zeit bugsieren. Als der Verein aus Bari im Sommer überraschend Insolvenz anmeldete und der Liga aufgrund diverser abstruser Machtkämpfe sowie Streitereien zwischen Führungspersonen und Vertretern der Vereine der Kollaps drohte, begrub ich mein Reisevorhaben vorläufig und blätterte enttäuscht in Grubers Memoiren.

Im späten September erklärten die Ligaverantwortlichen schliesslich mit neunzehn Teams in die neue Saison zu starten und präsentierten sogleich einen provisorischen Spielplan. Darin strich ich mir nebst dem Heimspiel von Cosenza gegen Palermo auch das Duell zwischen Foggia und Lecce dick an. Zwei Fussballclubs, die nebst einer langen Tradition über eine grosse und berüchtigte Anhängerschaft verfügen.

Am besagten Freitag steuerte ich verfrüht aus dem Vorlesungssaal und in fünfzehn Stunden über die Nacht an die Achillessehne des Stiefels. Bis zur Grenze lief alles flott, ehe ein Streik der norditalienischen Bahnbetreiber ein Eintreffen in Milano mit 29 Minuten Verspätung vermeldete. Mein halbstündiges Zeitpolster für den langen Weg von Gleis acht bis auf Gleis 21 war damit auf eine wertvolle Minute geschmolzen. Nachdem ich meine Generalkritik an unserem südlichen Nachbarn beendet hatte und die Regionalbahn ihre Türe öffnete, stürmte ich wie ein Wilder dem Zug entgegen und just nachdem ich aufgesprungen war, schlossen sich die Türen und er setzte sich in Bewegung. Im gleichen Augenblick entleerte sich der ganze Inhalt meines Rucksacks im Zugkorridor, als wäre ihm aufgrund des Sprints übel geworden. Noch nie habe ich derart erleichtert unter glotzenden Zugreisenden aufgeräumt. In Piacenza erfolgte mehr oder weniger planmässig der Umstieg auf den Nachtzug. Und plötzlich durfte ich die anfangs gerühmten alten Zeiten aus Grubers Buch in Form eines muffigen Zugabteils ohne Klimaanlage und Steckdosen neben einem dicken, schnarchenden Süditaliener selbst erleben.

Trotz der Verspätung warf mich das Gefährt am Morgen noch immer viel zu früh am Bahnsteig der einsamen, wenig malerischen Grossstadt Foggia raus. Bekanntlich bin ich aber wegen dem Calcio hier. Wem mehr Zeit zur Verfügung stehen sollte, dem sei ein Ausflug auf die nahegelegene Halbinsel Gargano ans Herz gelegt. Zumindest wenn man meinem Vermieter Glauben schenkt. Ein guter Mann scheint er auf jeden Fall zu sein, so liess er mich nach kurzem Telefonat die gebuchte Wohnung viel früher als geplant beziehen. Damit blieb Zeit um etwas Schlaf nachzuholen, ehe ich die wenigen Meter bis zum Stadion zu Fuss hinter mich brachte. Der in die Jahre gekommene Bau mit wuchtiger Haupttribüne und den vielen Malereien an der Aussenfassade liess mein Fussballherz höher schlagen.

Die zwei Vereine verbindet nebst dem kurzen Stadtnamen mit Doppelkonsonant weiter ein freundschaftliches Verhältnis auf Fanebene. So durften denn auch über tausend Fans aus Lecce den Gästeblock bevölkern. Mit dabei die bekannte „Ultra‘ Lecce“ Zaunfahne. Während sie mit vielen kleinen Fähnchen und etwas Pyrotechnik für ein anständiges Bild sorgten, gab es auf der Heimseite nebst der Schalparade der Curva Nord ein grosses Rauchintro zu bestaunen. Trotz zeitweiliger Reizüberflutung bei drei singenden Kurven gefiel mir die kleinere und ältere „Curva Nord“ am meisten. Im Gegensatz zur grösseren Südseite wirkt sie bezüglich der Ultra-Mentalität extremer und ungemein älter.

Für die 12’537 Zuschauer, die auch auf der Gegengerade das Spielgeschehen stehend verfolgen, hatte bis kurz vor dem Seitenwechsel lediglich der Sonnenschein erwärmende Wirkung. Praktisch mit dem Pausenpfiff ist es allerdings ein Akteur des Heimteams, der mittels Freistoss zur Führung trifft. Ein strammer Weitschuss wenige Zeigerumdrehungen nach Wiederbeginn sorgt für den Zweitorevorsprung und damit für einen vermeintlich weiteren Schritt aus dem Tabellenkeller. Die prekäre sportliche Lage hatte man sich bei den roten Teufeln durch einen Abzug von acht Punkten aufgrund Geldwäscherei übrigens selbst eingebrockt. Die Frage der Schuldzuweisung stellte sich kurze Zeit später auch auf dem Platz, als Lecce von einem Fehler profitierte und den Anschlusstreffer erzielte. In der Schlussviertelstunde gelang den Süditalienern per Direktabnahme gar der 2:2-Ausgleich. Foggia war nun völlig von der Rolle, während die Gäste mitsamt ihrer Anhängerschaft Lunte gerochen haben. Trotz Chancen zum Sieg blieb es jedoch beim gerechten Unentschieden.

Für mich war der Schlusspfiff das Zeichen, um in mein Nachtquartier zurückzukehren. Mit im Gepäck die Erkenntnis, dass die beiden Teams mit ihren lautstarken Tifosi im Rücken eine Bereicherung für die wohl chaotischste Liga Europas sind.