Wenn der Nachwuchs spätabends vor dem Wochenende das 60-seitige Spieltagsheft zusammenschustert und dabei sogar den italienischen Plural von «capo» korrekt setzt, hat eine Fanszene definitiv gute Jugendarbeit geleistet. Verwunderlich ist das in Zwickau nicht, zählt der Kern der rot-weissen Anhängerschaft in meinen Augen doch zu den kreativsten in ganz Deutschland. Das beginnt bei der Schriftart der Zaunfahne, bei der sich 1997 ein paar Zwickauer Jugendliche von fanatischen Fans in Griechenland inspirieren liessen, und reicht bis zum Gruppenlogo Peter Pixel.

Während die Münchner Justiz im ersten Fall einst ihre fehlende Verhältnismässigkeit eindrücklich unterstrich, erinnerte mich Pixel immer an Karlsson vom Dach – auch wenn dieser seinen Propeller auf dem Rücken trug. Doch gerade dieser stilistische Bruch, sich in einer muskelstrotzenden Subkultur über ein charmant-kindliches Logo zu etablieren, zeugt von einer wohltuenden Eigenständigkeit – und wäre in Polen einem Grafiker für Mottoshirts im Fussballumfeld wohl ziemlich schnell zum Verhängnis geworden. Vielleicht war es auch genau dieser Umstand, der Zwickau mit dem «Bösen Ball» der Ultras Dynamo verband – einer Gruppenfreundschaft, die längst auf die beiden Klubs und die breite Fanbasis übergeschwappt ist. Ausdruck davon ist auch das Strassenbild in der Zwickauer Altstadt, wo mittlerweile mehr schwarz-gelbe als rot-weisse Sticker an den Laternen kleben.

Neben der Freundschaft nach Dresden unterhält Red Kaos auch langjährige Kontakte zu den Red Blue Devils aus dem ungarischen Szekesfehervar sowie zur Südkurve von Juve Stabia. In diesem Zusammenhang sei auch die musikalische Ader der Stadt im Südwesten Sachsens erwähnt, die Heimat Robert Schumanns. Zwar in völlig anderen musikalischen Gefilden zuhause, hätte sich der Komponist wohl dennoch nicht geschämt für Gesänge wie «Florenz aus dem Europapokal geschmissen», den «Doppelpass», die «Verflogenen Erfolge» oder für das hymnische «Dass wir Zwickauer sind». Letzteres wiederum inspirierte die Freunde aus Castellammare di Stabia zur Adaption «Siamo pazzi di te» – und glich damit zumindest symbolisch das wohl uneinholbare Ungleichgewicht übernommener Melodien zwischen Italien und dem deutschsprachigen Raum etwas aus. Selbst der einstigen Heimat widmete die Fanszene mit dem Stadionturmlied aussagekräftige Zeilen mit Ohrwurmcharakter.

Über das neue Stadion auf der Eckersbacher Höhe zieht zwar der Wind durch noch unbebaute Ecken, doch für Ultras, die zuvor zwei Jahrzehnte auf Stahlrohrtribünen im Westsachsenstadion und später im Sportforum Sojus gestanden hatten, ist das durchaus in Ordnung. Trotz moderner Anmutung vermittelt das Stadion einen praktischen Eindruck. Mit der jüngsten Kampagne «Fussball gehört den Fans», ins Leben gerufen, um eine Finanzlücke von einer halben Million Euro zu schliessen und die Löschung aus dem Vereinsregister zu verhindern, zeigte die Fanszene erneut ihre Schlagkraft. Statt eines Investoreneinstiegs entschied sie sich für ein Crowdfunding – eine selbstorganisierte Rettungsaktion anstelle eines ungewissen Ausverkaufs. Grund für die finanzielle Schieflage war der Abstieg 2023 aus der 3. Liga, in welcher die Schwäne seit der Saison 2016/17 gespielt hatten.

So blieb der 90’000-Einwohner-Stadt auch in der Regionalliga Nordost jener Klub erhalten, dessen Wurzeln im Planitzer SC liegen. Als Wiege der deutschen Autoindustrie war es später die BSG Horch/Motor Zwickau, die 1949/50 den Meistertitel der allerersten DDR-Oberliga-Saison gewann. Während der DDR-Zeit war der VEB Sachsenring Zwickau – Hersteller des Trabants – sogenannter Trägerbetrieb. Es folgten weitere Erfolge, etwa das Erreichen des Halbfinals im Europapokal der Pokalsieger 1976. In den 1990er-Jahren agierte der FSV Zwickau sogar zweitklassig, erlebte aber auch einen Abstieg bis in die Landesliga Sachsen. Durch die Geschichte führt auch ein von Fans während der Pandemie initiierter digitaler Sonderzug.

Auf den einzigen, jedoch umstrittenen DDR-Meistertitel spielten auch die Chemiker mit einem Spruchband an – und füllten mit 1’750 grün-weissen Anhängern die gesamte Hintertortribüne. Bei 9’651 Zuschauern trafen in einem praktisch ausverkauften Stadion zwei reife Fanszenen aufeinander – Blickfang Ultra gegen Erlebnis Fussball und damit auch zwei unterschiedliche Stile. Während bei den Gästen die Trommel den Klatschrhythmus – jeder Schlag Teil einer einfachen Melodie – unterstützte, agierte man auf Heimseite mit den Schlägern virtuos und melodisch. Das nicht minder originelle Liedgut unterstrichen die Chemiker durch Schnipseleinlagen, während der Sektor E5 gegenüber immer wieder neue Fahnen in den Tifo einband, darunter auch die bekannte in kyrillischer Schrift. Das Spiel endete 1:1, der vermeintliche Klassenerhalt für Chemie – doch die Hauptrolle spielten an diesem Tag die beiden Fankurven.