Wer durch die Gassen der Altstadt von L’Aquila schlendert, wähnt sich kaum in den Abruzzen. Mitten in den Bergen breiten sich weite, symmetrische Strassen aus, gesäumt von prunkvollen Arkaden, die in grosszügige Plätze münden. Noch weniger glaubt man, sich an einem Ort zu befinden, der vor etwas mehr als 15 Jahren nahezu in sich zusammenbrach.
Das Erdbeben vom 6. April 2009 war für mich der erste Berührungspunkt mit der 70’000-Einwohner-Gemeinde im höchstgelegenen Teil des Apennins. Fasziniert und ungläubig zugleich verfolgte ich damals die Fernsehbilder aus der abruzzesischen Hauptstadt – und war erschüttert, dass ein derart verheerendes Beben mit über 300 Todesopfern in unserem südlichen Nachbarland überhaupt möglich war. Auch heute stehen in der Altstadt zahlreiche Kräne und Baugerüste. Doch sie erzählen nicht mehr von Zerstörung, sondern zunehmend vom Aufbruch: Als italienische Kulturhauptstadt 2026 soll L’Aquila bis zum Jahreswechsel auf Hochglanz poliert werden.
Viele Jahre später öffnete sich mir durch den Fussball eine weitere Dimension der Verbindung zu L’Aquila. Genauer gesagt war es die lokale Fanszene unter der Führung der traditionsreichen «Red Blue Eagles 1978», die mich – damals noch in Videoclips aus dem speziellen Eckblock des alten Velodroms – in ihren Bann zog. Als Erfinder des Fangesangs «Un giorno all’improvviso» steht diese kleine, aber eindrucksvolle Kurve am Ursprung eines weltbekannten Fangesangs. Mit ihrer charakteristischen Aufstellung im Quadrat und ästhetischen Zaunfahnen haben sich die Red Blue Eagles zudem ein unverwechselbares visuelles Markenzeichen geschaffen.
Bemerkenswert ist auch ihre Eigenständigkeit: Abgesehen vom respektvollen Umgang mit Ultras von SPAL pflegt die Gruppe keine Kontakte – selbst die einstige Verbindung zu Chieti ist Geschichte. Umso eindrücklicher wirkt die landesweite Solidarität nach dem Erdbeben: Aus allen Teilen Italiens reisten Ultragruppen nach L’Aquila, um bei Bergungsarbeiten und Wiederaufbau zu helfen. Eine Statue mit Gedenktafel erinnert bis heute auf dem Areal «Ultras d’Italia» an diese aussergewöhnliche Geste der Zusammengehörigkeit unter italienischen Fanszenen.
Seit knapp einem Jahrzehnt trägt L’Aquila 1927 seine Heimspiele im Stadio Gran Sasso d’Italia aus – benannt nach dem höchsten Gipfel des Gebirges. Obwohl mit Chieti ein namhafter Gegner anreist und 300 Gästefans mitbringt, verlieren sich an diesem Tag nur 1300 Zuschauer im weiten Rund. Der schwache Andrang hat zwei Gründe: Zum einen erfolgt der Anpfiff an einem Donnerstag um 15 Uhr, zum anderen hat sich mit der US Sambenedettese bereits vorzeitig ein anderes Team den einzigen Aufstiegsplatz gesichert. Zwar spielen die vier Verfolger in der Serie D ebenfalls Playoffs aus, doch diese führen nur in Ausnahmefällen zum Aufstieg – wie hier beschrieben.
So kommt dem 2:0-Heimsieg sportlich keine grosse Bedeutung zu. Und dennoch: Auf Heimseite stehen rund 70 Leute unermüdlich hinter ihren Farben – Ultras mit Glatze und Sonnenbrille, Frauen mit Handtaschen und Väter mit ihren Kindern. Sie kommen ohne Zaunfahnen, Trommeln oder Megafon – gebremst durch Stadionverbote, nicht aber durch Überzeugung. Sie sind da. Und das zählt.