„Das muss ich unbedingt hin“ sind meine Worte gewesen sein, als ich das neue Stadion von Olympique Marseille das erste Mal gesehen habe. Vor ziemlich genau vier Jahren begannen die Verantwortlichen in Südfrankreich mit der Renovierung der Spielstätte hinsichtlich der Europameisterschaft im eigenen Land. Bereits davor hatte mir das Stade Vélodrome mit seinen mächtigen Tribünen gefallen, mit der neuen Dachkonstruktion wirkt das Stadion aber noch einmal um ein Vielfaches pompöser. Die alte Haupttribüne musste einer grösseren Muscheltribüne weichen, während die drei anderen Tribünen ihre Form behielten.

Genug geschwärmt! Bis es mit einem Besuch soweit war, waren einige Hürden zu nehmen – angefangen mit der Suche für ein angemessenes Spiel. Als ich nach dem Jahreswechsel sah, dass am Osterwochenende Paris St. Germain in Südfrankreich zu Gast sein wird, hatte ich einen Entschluss gefasst, da ich dank den beiden Feiertagen auch den Sonntagabend ohne Urlaubstag abdecken konnte, an dem dieses Spiel wohl stattfinden würde.

Mit meinem Namensvetter hatte ich schnell einen Begleiter gefunden, der von der Idee begeistert war. Begeistert war auch ich, als ich kurz darauf einen Hin- und Rückflug für schlappe 79.- Franken buchte. Anbieter war die Airline Darwin, die unter dem Namen Etihad Regional diese Verbindung bedient. Nun konnte ich zum schwierigsten Teil übergehen, dem Beschaffen zweier Tickets, denn das Spiel entwickelte sich zum ultimativen Spitzenkampf. So erstellte ich im Voraus einen Account und abonnierte den Newsletter. Dennoch gab es, als ich in der virtuellen Warteschlange endlich an die Reihe kam, nur noch wenige Restkarten. Trotzdem reichte es für zwei Tickets auf der Haupttribüne.

Kaum war ich alle Sorgen los, sorgte Etihad Regional an einem regnerischen Wochentag für einen Paukenschlag. Der „Dear Customer“ musste leider darüber informiert werden, dass der Flug nach Marseille annulliert wurde. Wer einen Ersatzflug möcjhte, soll sich in den nächsten Tagen bei ihnen melden. Grund für die Annullierung war, dass Etihad Regional mit einer Vorschrift der Schweizerischen Luftfahrtbehörde (BAZL) in Berührung kam und sich die Strecke für sie grob gesagt nicht mehr rentierte. Grund genug für Darwin, kurzfristig dreissig Flüge zu streichen.  So blieb uns nichts anderes übrig, als um eine Alternativroute zu betteln, wobei bei mir der Service bescheiden ausfiel. Erst bekam ich auf meine Mails gar keine Antwort, ehe ich eine lächerliche Variante mit dem Zug vorgeschlagen bekam, schlussendlich wurde mir und dem Namensvetter aber doch noch ein Flugticket kostenneutral via Paris ausgestellt. Abflugtag war derselbe, durch den Abflug am Nachmittag und dem langen Aufenthalt in Paris verloren wir aber einen ganzen Ferientag.

Kurz vor Mitternacht setzte unsere Maschine schliesslich mit Verspätung am Flughafen Marseille Provencal auf und wir hatten Glück, mit Ach und Krach den letzten Bus des Tages zu erreichen. Nach etwas mehr als 20 Minuten Fahrt erreichten wir die Innenstadt, wo wir mit der Metro bis zum Hotel fuhren. Dort raubte mir der junge Mann an der Rezeption noch die letzten Nerven des Tages, als er penetrant behauptete, dass wir das Hotel noch nicht bezahlt hätten. Immerhin gelang es mir, die Sache am nächsten Morgen zu regeln und so ging es für uns nach einem langen Tag endlich in die Horizontale. Pünktlich am nächsten Morgen standen wir an der Rezeption, wo sich der Chef höchstpersönlich bei uns für den forschen Auftritt seines Mitarbeiters entschuldigte und uns versicherte, dass wir bereits alle Rechnungen beglichen hatten.

Für uns stand ein Ausflug nach Cassis an, einem malerischen Fischerstädtchen östlich von Marseille. Bei wunderschönem Wetter machten wir uns per Zug auf nach Cassis, wovon bei der Ankunft nichts zu sehen ist. Erst nach einer knappen halben Stunde zu Fuss erreicht der Tourist die ersten Häuser. Der Weg zur Küste führt durch Saatfelder und schöne Anwesen. Das Dorf selbst liegt malerisch zwischen Felsen eingebettet an der Côte d’Azur und wir entschieden uns für eine Erkundungstour, die mehrere Stunden beanspruchte. So verging der Tag in Windeseile und wir machten uns am Abend wieder auf nach Marseille, wo wir den Abend mit algerischen Spezialitäten im Quartierrestaurant verbrachten.

Und dann kam er auch schon, der Spieltag. Ursprünglich hatten wir noch mit einem Spiel in Nizza und Montpellier geliebäugelt, beliessen es aber bei diesem Kracher, um mehr Zeit für Kulturelles zu haben. Neben einem Stadtrundgang besuchten wir so auch das eine oder andere Museum, wobei eher moderne Kunst im Vordergrund stand.

Da wir mit einem Chaos in Stadionnähe rechneten, ging es schon knapp drei Stunden vor Anpfiff los. Die frühe Anreise war ein Segen, denn als wir vor dem Stadion ankamen, ging es drunter und drüber. Wir liefen nicht nur zufällig in einen Mob von Marseille-Fans hinein, die Steine auf die Polizei und den Mannschaftscar von PSG schmissen, sondern mussten auch wieder fluchtartig kehrt machen, um nicht von einem Geschoss oder Tränengas getroffen zu werden. Aus sicherer Entfernung beobachteten wir das Geschehen und bekamen nebst viel Pyrotechnik und Böller auch einige Exemplare vom freundlich gesinnten Sampdoria zu Gesicht. Der Hass gegen die Hauptstadt Paris ist hier allgegenwärtig.

Nach der Aufruhr ging es für uns ins Stadion, wo wir unsere Plätze im obersten Rang der Haupttribüne einnahmen. Einfach nur wow! Der Support begann bereits eine Stunde vor Anpfiff und die Zeit verging wie im Flug, ehe der Einlauf der Mannschaften für den nächsten Gänsehautmoment sorgte. Eine gigantische Choreo erstrahlte über alle vier Tribünen, wobei wir das Glück hatten, auf jener Tribüne zu sitzen, die „nur“ blaue Fähnchen geschwenkt hatte. Bereits vor Anpfiff waren damit unsere Erwartungen erfüllt, doch auch das Spiel enttäuschte uns nicht. Vom frenetischen Heimanhang angetrieben, erarbeiteten sich die Gastgeber immer wieder Chancen zur Führung. Bei Eckbällen für die Hauptstädter kippte die Stimmung jeweils in Hass um und Lavezzi tat einem richtig leid, als er an der Eckfahne von Gegenständen eingedeckt wurde und die Partie erst nach mahnenden Worten des Schiedsrichters weitergeführt werden konnte. Nach einer halben Stunde endete ein Angriff der Hausherren in totaler Ekstase bei den 65’148 Zuschauern. Topscorer André-Pierre Gignac traf zur Führung für Marseille.

Nur Minuten später kehrte im Vélodrome, das heute einen neuen Zuschauerrekord verzeichnete, Totenstille ein. Blaise Matuidi traf mit per Schlenzer wunderschön zum Ausgleich – im rundum vergitterten Gästesektor gab es daraufhin kein Halten mehr. Doch OM liess sich vom Gegentor nicht beeindrucken und erneut war es André-Pierre Gignac, der die Pariser mit seinem zweiten Tor kurz vor der Pause schockte. Die Stimmung war nun kaum in Worte zu fassen.

Im zweiten Durchschnitt zeigten die Hauptstädter dann, wieso sie als Favorit ins Meisterrennen gehen. Mit gutem Spiel gegen den Ball und einzelnen Nadelstichen, von denen der Brasilianer Marquinhos einen zum Ausgleich nutzte, meldeten sich die Gäste zurück. Und nur zwei Minuten nach dem Ausgleich bugsierte ein Marseille-Verteidiger den Ball unglücklich ins eigene Tor, nachdem er im Zweikampf von Zlatan Ibrahimovic bedrängt wurde. Marseille-Coach Bielsa reagierte und brachte Ocampos für den unglücklichen Thauvin, doch auch er konnte die knappe 2:3-Niederlage gegen den „Feind“ nicht mehr abwenden. Für einen letzten Aufreger sorgte Andrew Ayew, der in der Nachspielzeit die rote Karte Karton für überhartes Einsteigen gezeigt bekam. Schade, dass es in diesem Hexenkessel nicht zum Punktgewinn gereicht hat.

Nach einer ruhigen Nacht hiess es für uns am nächsten Tag wieder in die Heimat aufzubrechen. Im Gepäck Erinnerungen an ein geniales Stadion, schöne Strände in Cassis und an eine Stadt, in der man sich, wenn man keinen Marseille-Trainer trägt, gleich ein wenig unwohl fühlt.