Hätte mir jemand nach dem Hinspiel des Copa-Libertadores-Finals gesagt, dass ich bei der Entscheidung im Rückspiel im Stadion sein werde, hätte ich ihn ob seiner abstrusen Fantasien nur irritiert angelächelt. Zwar hatte ich in der Tat aus Neugier kurz nach Flügen in die argentinische Hauptstadt Buenos Aires gesucht, liess das Unterfangen „Superclasico“ aber schnell wieder fallen.

Kurz später agierten die zerbrochenen Fensterscheiben des Boca-Busses am Tag des Rückspiels als Flügelschlag vom Schmetterling in der Chaostheorie und so führte eines zum anderen. Plötzlich handelten diverse Medien Madrid als Austragungsort im Exil. Eine hiesige Austragung des Rückspiels sei linguistisch und von der Anzahl an emigrierten Argentiniern her gesehen am sinnvollsten. Ich spekulierte und buchte vor der definitiven Bestätigung eine Direktverbindung ab Zürich. Beide Mannschaften waren über den Entscheid wenig erfreut und reichten beim Verband Beschwerde ein. Auch die Ticketfrage blieb weiterhin ungeklärt, da die Personen aus meinem Umfeld in der ersten Verkaufsphase, während ich im Flugzeug auf dem Heimweg von Bristol sass, keinen Erfolg hatten. Um für die zweite Verkaufsphase bestens gewappnet zu sein und den Kauf speditiv abzuwickeln, verschaffte ich mir vorab einen Überblick auf der entsprechenden Seite. Plötzlich schalteten die Veranstalter vereinzelt Sektoren auf der Haupttribüne frei, sodass ich einen Platz auf ebendieser auswählte und mein Glück erst fassen konnte, als das Mail mit der Bestätigung in meinem Postfach aufleuchtete. 140 Euro sind wahrlich kein Schnäppchen, unter diesen Umständen mache ich jedoch gerne eine Ausnahme. Am Abend gelang das erneute Kunststück, für meinen Begleiter Sergio ein Ticket im Bereich der Boca Juniors zu ergattern.

Für uns war der Entscheid des Fussballverbands „CONMEBOL“ natürlich ein Geschenk, ich verstehe die Wut bei den Fans in Südamerika aber vollends. Da gehst du als treuer Fan seit Lebzeiten zum Fussball und triffst im wichtigsten Finale der Neuzeit auf deinen grössten Erzrivalen und dieses Spiel von solch unvorstellbarer Tragweite wird dir weggenommen. Die Einsprachen beider Mannschaften wurden jedoch abgewiesen und auch die Boca Juniors blitzten beim TAS ab, sodass der Austragung im Bernabéu rechtlich nichts mehr im Wege stand.

Drei Stunden vor Anpfiff suchte unser Duo die eigentliche Spielstätte von Real Madrid auf und traf neben einer riesigen Menschenmasse vor allem auf eine Vielzahl an gegen Empathie geimpfte Polizisten. Die Menschenmassen in den Gassen wurden von einer Heerschar an berittenen und maskierten Einsatzkräften zusammengepfercht und, wie jeweils in Argentinien, mittels Ringsystem abgefertigt. Einlass wurde nur demjenigen gewährt, der sein Ticket als QR-Code auf dem Smartphone gespeichert hat. Ganz in der Nähe meiner Sitzschale am rechten Rand der Haupttribüne fand sich die „Heimkurve“ der Millionarios. Auf beiden Seiten wurde der oberste Rang jeweils mit einem grosszügigen Puffer abgegrenzt, wo im Eckbereich der aktive Kern der Fanszene Einlass fand. Wie hoch hierbei der Anteil an Barra-Brava-Vertreter gewesen sein mag, ist schwierig abzuschätzen. Ein Grossteil der Leute, mit denen wir gesprochen hatten, waren jedenfalls direkt aus Argentinien angereist. Die Zaunfahne der „Borrachos del Tablon“ konnte aber ebenso wenig ausgemacht werden, wie die von „La Doce“. Zwar hing kurze Zeit ein Stück Stoff mit der Zahl 12 im Gästeblock, dieses war beim Anpfiff allerdings nicht mehr zu sehen. Der Stimmung tat diese Tatsache aber keinen Abbruch, so erzeugten beide Fanlager oftmals eine beachtliche Lautstärke, die unterstützt von den typischen Armbewegungen, dem Springen und den Trommelrhythmen zu überzeugen vermochte. Auf Stilmittel musste, abgesehen von einer Fackel im River-Block, vollkommen verzichtet werden. Beim Abbrennen der Pyrotechnik stürmte sofort Polizei in den Block und sorgte durch ihr unüberlegtes und rabiates Eingreifen erst für eine gefährliche und unübersichtliche Situation. So wurde der Delinquent während seiner Aktion einfach von hinten in den Rücken gestossen.

Am meisten überraschte mich jedoch der spielerische Teil an diesem Abend. Beide Teams führten die Zweikämpfe extrem hart und kämpften wortwörtlich bis zum Umfallen. Die Führung von Boca vermochte River im zweiten Durchgang nach schnellem Kombinationsspiel sehenswert ausgleichen. Während auf der Seite der Xeneizes Mittelfeldakteur Pavon überzeugte, war es bei den „Gastgebern“ mit Quintero der einzige Ausländer in ihren Reihen. Ihm gelang in der Verlängerung ein Traumtor, das den Lärmpegel in Buenos Aires wohl noch höher schnellen liess als im River-Block. Von nun an war der Schlussmann der Gäste fester Bestandteil in der Vorwärtsbewegung. Boca drückte vehement auf den Ausgleich, den Rot-Weissen gelang es in der letzten Minute jedoch, per Konter mit dem Treffer ins verwaiste Tor zum 3:1 alles klar zu machen. Während die Hälfte der 72’000 Zuschauer sich in den Armen lag, sass auf der Gegenseite ein Grossteil teilnahmslos auf den hellblauen Sitzen und starrte ins Leere. Die Gefühlslage, in der du dich wiederfindest, nachdem du viel Kosten und Zeit auf dich genommen hast, nur um dann deinen Erzrivalen mit dem Pokal feiern zu sehen, wünsche ich keinem Fussballfan jemals. Der Verband hat seine Schlüsse aus der Causa Madrid ebenfalls gezogen und trägt das nächste Final als einzelnes Spiel an einem (voraussichtlich) neutralen Ort aus.

Nach eigener Auffassung kam es nach der Partie zu keinen nennenswerten Ausschreitungen, dennoch erreichten wir erst weit nach Mitternacht wieder unsere Unterkunft. Für mich war dieses Spiel der erste erfreuliche Berührungspunkt mit lateinamerikanischer Fankultur. Weiter stimmt mich die Tatsache glücklich, dass ich die beiden grössten Stadien Madrids innerhalb eines Wochenendes besuchen konnten.