Das Gastspiel des FC St. Gallen bei Slask Wroclaw anlässlich der Qualifikation zur Conference League ist nicht nur aus grün-weisser Fansicht ein vorgezogenes Endspiel. Tatsächlich steigt im grössten Stadion der polnischen Ekstraklasa Ende Mai 2025 der Final des jüngsten Uefa-Wettbewerbs. Doch so imposant die moderne Spielstätte auch daherkommt, so überdimensioniert ist sie. Für die Europameisterschaft 2012 errichtet, steht der Neubau beispielhaft für zahlreiche Projekte, welche die polnische Stadionlandschaft in den letzten Jahren ihrer Individualität beraubt haben.
Hinzu gesellt sich die Lage in der nordwestlichen Agglomeration, die dazu führt, dass viele Spiele vor spärlicher Kulisse stattfinden und nicht selten dafür das alte Stadion Oporowska ausgereicht hätte. Dies, obwohl Wroclaw (zu Deutsch «Breslau») hinter Warschau, Krakau und Lodz die viertgrösste Stadt des Landes darstellt. Rund 650’000 Einwohner leben im Zentrum Niederschlesiens, einer Region im Westen Polens mit bewegter Geschichte. Erst seit dem Potsdamer Abkommen steht die Stadt endgültig unter polnischer Verwaltung, während sie zuvor bereits zu Österreich, Preussen und zum Deutschen Reich gezählt hatte. Trotz schwerer Beschädigung im 2. Weltkrieg überzeugt die Stadt an der Oder mit einem sehenswerten Zentrum und einer malerischen Dominsel.
Weniger prunkvoll präsentiert sich der Trophäenschrank des lokalen «Wroclawski Klub Sportowy» (Breslauer Sportklub), der lediglich zwei Meistertitel (1977 und 2012) und zwei Siege im Pokal (1976 sowie 1987) vorzuweisen hat. Das bescheidene Palmarès lässt sich ein Stück weit mit der geschichtlich begründeten und verhältnismässig kurzen Historie erklären, denn wie praktisch alle Vereine der Region wurde auch Slask erst nach dem 2. Weltkrieg gegründet. Der Stolz über die Herkunft ist in diesem Namenszusatz, der für Schlesien steht (und als «Schlonsk» ausgesprochen wird), wie auch in Form des polnischen und schlesischen Adlers im Logo gut ersichtlich.
Mein erster und bisher einziger Spielbesuch mit Breslauer Beteiligung liegt knapp zehn Jahre zurück. Damals existierte auf Fanebene noch das grosse Dreigespann um Wisla Krakau, Lechia Gdansk und Slask Wroclaw. Mittlerweile haben die Krakauer mit den einstigen Freunden aber gebrochen und sind mit Ruch Chorzow, Widzew Lodz und Elana Torun eine neue Allianz eingegangen. Dem weiterhin bestehenden Bündnis mit Lechia Gdansk widmeten die 700 Gäste aus Niederschlesien im Hinspiel in St. Gallen denn auch einige ihrer Gesänge bei insgesamt doch stark vom Spielgeschehen abgekoppelten Supportbemühungen.
Anders als in Westeuropa liegt der Fokus in der polnischen Fanbewegung aber weder auf der Stimmung noch dem visuellen Auftreten. Entsprechend flaggte im ersten Aufeinandertreffen mit «Ave Silesia» auch die erlebnisorientierte Abordnung der Westpolen zentral im St. Galler Gästeblock an. Deren Zaunfahne geriet 2014 beim Auswärtsspiel in Sevilla gemeinsam mit der von «Wielki Slask» sowie jener der beiden Fanclubs aus Strzelin und Skokowa in die Fänge der Biris Norte. So zählen die Andalusier denn auch bis heute zu den grossen Rivalen von Slask, wenn auch aus anderen Gründen als etwa der geografisch designierte Derby-Gegner Zaglebie Lubin.
Nicht zu verwechseln ist der Erstligist aus Lubin mit dem Aufsteiger Motor Lublin, zu dem die Breslauer eine Freundschaft pflegen. Wie auch im Fall von Miedz Legnica unterhalten nebst den Slask-Anhängern auch Vertreter von Dynamo Dresden zu diesen zwei Klubs Kontakte. Dass in Polen Freundschaften auch sehr sichtbar gelebt werden können, zeigt die Danziger Ultra-Gruppierung «Green Gang», die ihren Freunden aus Breslau als Zeichen der Bruderschaft gleich ein eigenes Exemplar ihrer Zaunfahne überlassen hat.
Zu Spielbeginn breiten die Heimfans eine kleine Fahne über dem zentralen Sektor hinter dem Tor aus, welche die Flagge der polnischen Heimatarmee mit der Kotwica zeigt, dem Symbol der polnischen Widerstandsbewegung im 2. Weltkrieg. Diese Fahne bleibt zu Ehren des Feiertags zur Schlacht bei Warschau bis in die 20. Minute sichtbar, ehe Rauchsäulen in den Landesfarben durch Daytime-Feuerwerkskörper die Aktion abrunden. Auch im grössten Gästeblock Polens, in dem sich über 500 St. Galler eingefunden haben, wird mit Pyrotechnik hantiert. Doch anstelle des bekannten «Breslauer» Blendfeuers, dessen Name auf die Nutzung dieses durch deutsche Truppen im 1. Weltkrieg zurückgeht, zünden die Ostschweizer Vertreter lediglich die «bewährten» Seenotsignale.
Während bei Slask die Euphorie über den 2. Platz aus der Vorsaison nach einem verpatzten Saisonstart bereits verflogen ist, tritt St. Gallen mit sechs Siegen in Folge und einem 2:0-Vorsprung aus dem Hinspiel mit breiter Brust an. Dennoch sind es nach zehn Minuten die Gastgeber, welche die vermeintliche Führung erzielen. Eine VAR-Intervention lässt den Schiedsrichter den Treffer jedoch aberkennen und stattdessen eine Viertelstunde später die Espen über die Führung jubeln. Damit scheint die Partie vor 18’053 Zuschauern bereits früh entschieden, doch drei Slask-Tore innert sechs Minuten egalisieren vor der Pause das Gesamtskore und lassen die Stimmung ihren Siedepunkt erreichen.
Die psychologischen Vorteile liegen nun bei den Polen und so überrascht es nicht, dass der Schiedsrichter eine Viertelstunde vor Schluss auf den Punkt zeigt. Doch statt dem Todesstoss für Grün-Weiss folgt eine erneute VAR-Konsultation. Im Anschluss daran ahndet der kroatische Unparteiische nicht ein vermeintliches St. Galler Foul, sondern eine Schwalbe eines Breslauer Stürmers und stellt ihn gar mit Gelb-Rot vom Platz.
Auch tief in der Nachspielzeit ist es der kleine Bildschirm am seitlichen Spielfeldrand, der zum Protagonisten avanciert: Nach einem Handspiel im Strafraum der Polen zieht ihn der Unparteiische bei – und entscheidet auf Penalty für St. Gallen. Es kommt zu einer Rudelbildung und der nächste Pole fliegt vom Platz. Ein Treffer würde trotz der Niederlage das Weiterkommen bedeuten, doch dem St. Galler Vertreter versagen – ebenfalls wenig überraschend – die Nerven. Doch auch hier sieht der Schiedsrichter in Form des Torhüters, der sich zu früh von der Linie wegbewegt hat, eine Regelwidrigkeit und lässt den Elfmeter wiederholen. Nun übernimmt Willem Geubbels die Verantwortung – und verkürzt in der 18. Minute der Nachspielzeit zum 3:2 aus Sicht der Gastgeber.
Riesiger Jubel im Gästeblock, doch noch immer wird in Wroclaw munter bis zur nächsten brenzligen Situation weitergespielt. Diese ereignet sich fünf Minuten später im St. Galler Strafraum: Nach einem umkämpften Zweikampf ertönt abermals ein Pfiff. Doch – ihr ahnt es – nicht etwa wegen eines Foulspiels des FCSG-Verteidigers, sondern erneut um eine Schwalbe mit einer gelben Karte zu ahnden. Der polnische Sünder kann dies nicht fassen und wird für seine Reklamationen ebenfalls des Feldes verwiesen. Erst nach 25 Minuten (!) Nachspielzeit ertönt gegen acht Polen der aus St. Galler Sicht erlösende Schlusspfiff und damit der Auftakt für weitere Auseinandersetzungen unter den Akteuren, die sich bis in den Spielertunnel fortsetzen. Selten waren auswärtige Anhänger in Breslau wohl so froh, dass mit den «Ochrona» und «Sluzba» an beiden Enden des Gästeblocks Sicherheitseinheiten bereitstehen, die nicht für ihr zimperliches Auftreten bekannt sind.