In der Schulzeit war ich Pragmatiker. Bei den Wahlpflichtfächern zog ich den Italienisch- dem Werkunterricht vor – schlicht, weil jener über den Mittag und nicht am späten Nachmittag stattfand. Und in einer Klasse voller Mädchen interessierte mich auch die Sprache nicht wirklich. Heute wünschte ich, ich hätte mich damals bei den Vokabeltests weniger auf die Hilfe meiner Banknachbarinnen verlassen. Was mir hingegen geblieben ist: Meine Lehrerin hatte Verwandte in einer Stadt namens Terni.
Mittlerweile zählt Italien aufgrund der Vielfalt seiner Kulinarik, seiner Landschaft und seiner Fanszenen zu meinen bevorzugten Reisezielen. Terni blieb für mich dennoch lange Zeit wenig greifbar. Sowohl die Stadt als auch Umbrien generell sind wenig touristisch erschlossen – nicht zuletzt, weil es die einzige italienische Region ohne Meeresküste oder direkte Grenze zu einem anderen Land ist. Die Gründe im Falle von Terni liegen auch im 2. Weltkrieg, zumal die 100‘000-Einwohner-Gemeinde mit ihren Stahlwerken für die Rüstungsindustrie relevant war und von den USA bombardiert wurde. Terni fehlt ein historisches Ambiente. Deshalb taucht die Stadt am Fluss Nera in Reiseführern meist nur aus geografischen Gründen auf – liegt doch das geografische Zentrum Italiens mit der Ponte Cardona unweit südwestlich.
Aus sportlicher Sicht spielt Terni ebenfalls eine Nebenrolle – trotz 100-jährigem Bestehen, das der lokale Fussballklub 2025 feiert. Ternana pendelt seit knapp zwei Jahrzehnten zwischen der Serie B und C. Auch in dieser Saison kämpfen die Umbrier in der dritten Liga um den Aufstieg – trotz eines Punkteabzugs wegen einer verspätet beglichenen Steuerschuld. Sie sind erster Verfolger von Virtus Entella. Ein Alleinstellungsmerkmal im italienischen Fussball stellt hingegen die Spielstätte dar: Sie verfügt über drei Ränge und hat die Form einer Ellipse. Der Bau ist damit weder stimmungsfördernd, noch schützt er vor Regen oder Wind und auch das Spielfeld liegt weit entfernt, originell ist er aber dennoch – besonders mit dem historischen Gästeblock in der «Curva San Martino», der aber seit vielen Jahren gesperrt ist. Auch die rot-grüne Farbgebung und der alliterative Name des «Stadio Libero Liberati», benannt nach einem tödlich verunglückten Motorradrennfahrer, fügen sich ins ungewöhnliche Gesamtbild.
Platz hätte die Spielstätte auch heute noch für deutlich mehr als 10’973 Zuschauer, aber ein fünfstelliger Wert ist in der Serie C ebenso selten wie respektabel. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass in den unteren italienischen Ligen kaum Saisonabonnenten existieren. In Terni beispielsweise besitzen nur knapp 2500 Personen eine Dauerkarte. Ein Umstand, der den Klub 2019 zu einer unkonventionellen Aktion bewog: Er lancierte Dauerkarten ab fünf Euro, bei der sogar ich für meine Sammlung eine gekauft hatte – doch weder die Kampagne noch der Postversand in die Schweiz hatten Erfolg. Auch in Terni existieren konkrete Pläne für einen Neubau, dass es in Italien bis zur Umsetzung aber noch ein weiter Weg sein dürfte, haben schon andere Fälle bewiesen. Nichtsdestotrotz kündigte Klubpräsident Stefano d’Alessandro die Partie gegen Perugia doppelt selbstsicher als «letztes Derby im Liberati» an.
Einen Dämpfer hatte das Aufeinandertreffen der beiden umbrischen Schwergewichte bereits im Februar verkraften müssen. Während in der Hinrunde in Perugia noch Auswärtsfans anwesend waren, blieb der Gästeblock in Terni verwaist. Grund dafür war eine Schlägerei auf der Autobahn zwischen Anhängern aus Perugia und Lucca, die für die Fans der «Grifoni» in einer viermonatigen Sperre bei Auswärtsspielen mündete. Trotz des fehlenden Gegners auf den Rängen setzten die Anhänger auf der Heimseite, die ihr Team seit 1990 aus zwei Kurven unterstützen, alles daran, der Partie einen würdigen Rahmen zu verleihen. Nebst einem Besuch im Abschlusstraining herrschte am Spieltag bereits in den Mittagsstunden reger Betrieb in den jeweiligen Lokalen und auch die typischen Bohnen mit Tomatensauce wurden serviert. Ternanas Fanszene geniesst im ganzen Land einen guten Ruf und hat seinen Ursprung Mitte der 1970er-Jahre in der Curva Est. Dieser entsprang auch die wohl bekannteste Gruppe, die «Freak Brothers», deren Name einer Reise nach Amsterdam entsprang, wo vier Terni-Fans auf die gleichnamige Comicserie stiessen. Nach 27 Jahren beschlossen sie 2007, nicht mehr unter eigenem Namen aufzutreten – aus Protest gegen die Anmeldepflicht von Materialien. Heute sind in der Curva Est die «Intaccati», die als einzige Gruppe im Unterrang anflaggen, sowie die «Brigata Gagarin» und die «Quelli della Est» federführend.
Dass die Fanszene dem linken Spektrum zu verordnen ist, zeigen neben der Kulturgeschichte der Stadt auch die politisch geprägten Fanfreundschaften. So sind an diesem Spieltag in der Curva Est Zaunfahnen von Atalanta (Forever), Sampdoria und Mainz (mit Dank nach Caserta) und St. Pauli sichtbar. Einen homogeneren Eindruck hinterlässt die Curva Nord, die unter diesem Namen seit 2012 besteht und eher jüngere Fans anzieht. Bei ihnen im Sektor hängt nebst dem «Teschio», dem Schädel der neugegründeten Ultras aus Bergamo, die Fahne der Ultras Inferno aus Lüttich und ein Exemplar der Ultras St. Pauli. Mit insgesamt fünf Zaunfahnen im Rund wirkt das Auftreten der Hamburger auf Aussenstehende etwas anmassend.
Beide Kurven zeigten einen soliden Auftritt, der sich mit fortlaufender Spieldauer allerdings dem Spielgeschehen anpasste. Dem Treiben auf dem Rasen fehlte wie bereits im ersten Duell mit dem Erzrivalen in dieser Saison das letzte Risiko. «Fere» verzeichnete zwar wesentlich mehr Spielanteile, blieb beim 0:0 aber ebenfalls ohne Torerfolg. Weil der Tabellenführer aus Entella parallel siegte, fühlte sich das Remis für die Rot-Grünen wie eine Niederlage an.