Der enge Terminplan in der Qualifikation zur Conference League bietet weder dem FC St. Gallen noch seinen Fans nach dem dramatischen Weiterkommen bei Slask Wroclaw eine Verschnaufpause! Doch auch wenn die Kurzfristigkeit der Reise Planungsgeschick und vielseitige Koordination erfordert, erachten es beide Parteien als Privileg, angesichts der Playoffs wieder nach Osten und zum türkischen Vertreter Trabzonspor reisen zu dürfen.

Der Klub aus dem Nordosten des Landes zählt mit sieben Titeln in der Liga und neun Pokalsiegen hinter dem bekannten Istanbuler Trio um Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray zu den erfolgreichsten des Landes und hat 2022 letztmals die Meisterschaft geholt. Geht es nach Trabzonspor selbst, wären sie gar achtfacher Champion, da Fenerbahce der Meistertitel der Saison 2010/11 trotz erwiesener Spielmanipulation nicht aberkannt wurde. Obschon dieser vermeintlichen Ungerechtigkeit weist der Trabzonspor Kulübü angesichts der noch jungen Klubgeschichte ein beeindruckendes Palmarès auf, entsprang der Klub doch erst 1967 einer Fusion lokaler Vereine. Bei der Farbwahl liessen sich die Türken von den weinrot-blauen Trikots von Aston Villa inspirieren und auch der trapezförmige Oberrang der Haupttribüne sowie die Backsteinmauern rund um die Spielerbänke erinnern an den Villa Park.

Im Gegensatz zur türkischen Riviera birgt die Schwarzmeerküste im Norden des Landes keine Sandstrände und die Uferhänge sind bergig und bewaldet. Touristen finden sich in der Gegend von Trabzon denn auch eher im Kloster Sumela im Zigana-Gebirge oder in den Einkaufspassagen der lebendigen Innenstadt als an den wenig sehenswerten Strandabschnitten. Während das Stadtzentrum (Ortahisar) zu Fuss zu erkunden ist, offenbart erst die Aussicht vom Hügel Boztepe, wie weitläufig die Grossstadtkommune mit über 800’000 Einwohnern ist. Vom Hafen aus verlassen Fähren die Stadt ins russische Sotchi und auch die georgische Grossstadt Batumi liegt nur eine dreistündige Autofahrt entfernt. Wie bereits im Frühling in Istanbul dominieren Cay (Rize-Tee) trinkende und Simits (Sesamringe) essende Menschen gemeinsam mit den unzähligen Katzen die Szenerie im Zentrum. Einzig die Warteschlangen vor den Geldautomaten scheinen angesichts der anhaltenden Inflation noch länger geworden zu sein.

Weit ausserhalb liegt hingegen das moderne Stadion mit seiner karoförmigen Fassade, während im Zentrum nur noch eine symbolische Tribüne in einer Parkanlage an die einstige Heimat von Trabzonspor erinnert. Das futuristische Design verdankt der nach Klublegende Senol Günes benannte Neubau einem Stuttgarter Architekten, der sich mit dem gleichen Entwurf bereits erfolglos für den Stadionneubau in Mainz beworben hatte.

Die 26’064 Zuschauer in der Arena sorgen für die gewohnt «türkische» Stimmung – mit einigen Dezibel weniger auf dem Schallpegel als die Istanbuler Grossklubs. Zwar ist es bisweilen ebenfalls sehr laut, doch die zügig vorgetragenen Lieder und Klatscheinlagen verebben ebenso schnell wie die Pfeifkonzerte bei gegnerischem Ballkontakt. Auch das mit den Smartphones erzeugte Lichtermeer fehlt nicht und wird in Trabzon jeweils in der 61. Minute durchgeführt – in Anlehnung an die osmanische Eroberung der Stadt im Jahr 1461. Seit den Sanktionen im Nachgang der Partie im März gegen Fenerbahce, als das Duell gegen den «Meisterdieb» in einem Platzsturm und wilden Jagdszenen endete, zeigt sich bei den sowieso bereits zerstreuten Fangruppen weiterer Aderlass.

Aus dem St. Galler Lager rechneten nach dem torlosen Hinspiel nur die grössten Optimisten mit einem Weiterkommen gegen einen Gastgeber, dessen Kader einen rund fünf Mal so hohen Marktwert aufweist, sofern man der Plattform Transfermarkt Glauben schenkt. Umso überraschter war die Mehrheit der 185 St. Galler Fans hinter dem Plexiglas im Oberrang, als ihr Team nach einer halben Stunde unerwartet in Führung lag. Zwar folgte kurz nach der Pause der Ausgleich, doch das 1:1 hatte trotz mehrerer heikler Situationen sowohl nach 90 Minuten als auch zum Ende der Verlängerung Bestand. So musste das Penaltyschiessen über das Weiterkommen entscheiden, bei dem die ersten acht Schützen ihre Aufgabe mehrheitlich souverän erledigten. Für Trabzon trat der einstige Champions-League-Finalist Stefan Savic als letzter Schütze an. Mit seinem satten Schuss liess er dem erneut starken FCSG-Goalie Lawrence Ati Zigi keine Abwehrchance, traf aber nur die Latte. Dies ebnete seinem St. Galler Namensvetter Ambrosius die Chance auf den grossen Coup. Dass der FCSG in den letzten Jahren auch im sportlichen Bereich einen grossen Schritt vorwärts gemacht hat, unterstrich der Verteidiger mit einem abgebrühten No-Look-Schuss ins grün-weisse Glück.

Aus Sicht der Türken bedeutete das 5:6 nach Penaltys das Ausscheiden, während der FC St. Gallen gleich bei seiner Premiere die Ligaphase der Conference League erreicht. Damit haben die Ostschweizer auf der mit zwölf Pflichtspielen längsten europäischen Reise der Klubgeschichte noch mindestens die Hälfte eines aufregenden Weges vor sich.