Wer meinen Blog länger verfolgt, wird gemerkt haben, dass sich meine fussballerischen Vorlieben geografisch gesehen von England in südöstliche Richtung nach Italien verschoben haben. So sind es weniger die Spiele selbst und vielmehr die authentischen Fanszenen auf dem Stiefel, die es mir angetan haben. Nirgendwo sind sie in einer derartigen Dichte zu finden, wie im Geburtsland der Ultra-Bewegung.

Dazu gehört auch die USD Cavese oder eben Cavese 1919, wie der Verein aus dem kleinen Städtchen Cava de’ Tirreni mittlerweile heisst. Gelegen in der Provinz Salerno, unweit der Amalfiküste, gehört die lokale Fanszene spätestens seit ihrem Kultfangesang „Dale Cavese“ zum weltweiten Ultra-Inventar.

Als Cavese im vergangenen Sommer den Aufstieg in den professionellen Fussball realisierte, war ein Besuch in der kommenden Spielzeit unumgänglich. Die Wahl fiel auf die vorletzte Runde der Serie C mit dem Heimspiel gegen Catania. Nachdem Cavese im Hinspiel ohne Tessera-Verpflichtung nach Sizilien reisen durfte, hatte ich auf die selbige Regelauslegung im Rückspiel gehofft, schlussendlich wurde ich jedoch enttäuscht. Immerhin eine Handvoll Tesserati reisten am Sonntag ins kleine Städtchen in Kampanien.

Vor Reiseantritt kursierte plötzlich die Rede vom 100-jährigen Vereinsjubiläum und der Aufhebung des „Giornata Biancoblu“ in den sozialen Medien der Blau-Weissen. Neuigkeiten, die mich beinahe zu Luftsprüngen veranlassten. Zwar feiert Cava seinen runden Geburtstag im Mai, das letzte Heimspiel der Saison wird aber jenes gegen Catania sein. Es sei denn, die Playoffs werden erreicht und die erste Runde überstanden. Um es vorwegzunehmen; die Jubiläumsfeierlichkeiten blieben zumindest auf den Rängen aus. Eine wichtige Person aus Fan- oder Vereinskreisen schien verstorben zu sein, anders lässt sich die Niederlegung eines Blumenstrausses vor der Fankurve nicht erklären.

Nach einer längeren Zugfahrt mit Umstiegen in Potenza und Salerno endlich am Zielort angekommen, präsentiert sich die 50’000-Einwohner-Gemeinde um die Mittagszeit wie ausgestorben. Auf den Strassen, die von Malereien der heimischen Fanszene (vor allem Acid Boys und Nucleo Mods Cava) geprägt sind, ist einzig Fussballvolk zugegen. Bis zum Anpfiff sind 2’341 Zuschauer im Stadio Simonetta Lamberti, versammelt auf der Haupttribüne und in der Curva Sud; die Gegentribüne bleibt gesperrt. Hinter dem weiblichen Namenszusatz der baufälligen Spielstätte steckt eine tragische Geschichte. Das elfjährige Mädchen fiel vor 37 Jahren in Cava de’ Tirreni einem Attentat der Camorra zum Opfer, welches ihrem Vater, einem lokalen Rechtsanwalt, hätte gelten sollen.

 

 

Mit Spielbeginn verschob sich mein Blick vom sehenswerten Bergpanorama in die Fankurve, wo ein Auftritt hingelegt wurde, der mir zuweilen Gänsehaut verlieh. Einen Capo mit derartigem Charisma hatte ich zuvor erst bei Hansa Rostock auf dem Zaun stehen gesehen. Durch die sehenswerte Führung der Gäste flachte die Stimmung etwas ab. Cavese hatte zwar mehr Spielanteile, scheiterte jedoch in der Angriffsauslösung, sodass das zweite Tor der favorisierten Sizilianer zum endgültigen Stimmungskiller mutierte.

Ich ärgerte mich bereits, eine solche Nummer wie Cavese mit einer Heimniederlage ohne Torerfolg zu besuchen, als sich die Blau-Weissen auf Rang und Rasen wieder aufrappelten und in der Schlussphase tatsächlich verkürzten. Das Schlussfurioso sollte bis zur 92. Minute erfolglos verlaufen, ehe ein geschenkter Penalty für die Gastgeber anstand. Das 37-jährige Cava-Urgestein Claudio de Rosa übernahm als Einwechselspieler die Verantwortung und versenkte vor der Kurve zum 2:2 Unentschieden. Damit ist ein Punkt gewonnen und die Chance auf die Playoffs gewahrt – wie es mir kurzzeitig durch den Kopf ging – als die Schlüssel explodiert und uns plötzlich wildfremde Menschen umarmen.

Die Mannschaft wird nach dem Abpfiff minutenlang gefeiert und aus dem unglücklichen Nachmittag hatte sich ein traumhafter Sonntag entwickelt. Vollkommen zufrieden ging es im Anschluss mit der Regionalbahn nach Napoli, wo erst am nächsten Abend der Heimflug anstand. Libero cittadino? No, Ultras!