Länger schon liebäugle ich mit dem Gedanken, von der klassischen Berichterstattung auf meinem Blog wegzukommen. Aus dieser Überlegung geht auch der neue Slogan „game-changing reports“ hervor, der den alten Slogan „Groundhopping since 2013“ ersetzt. Zwar hat sich meine Vorstellung von einem Fussballspiel auf einem kleinen Dorfsportplatz in den letzten Wochen und Monaten wieder deutlich romantisiert, vermehrt soll jedoch der Fokus auch auf anderen Facetten des Fussballs liegen. Nichtsdestotrotz werde ich mir weiter – manchmal mehr, manchmal weniger exzessiv – die Freiheit erlauben, Spiele rund um den Globus zu besuchen und darüber zu berichten. Mit dieser neuen Rubrik schaffe ich mir zusätzlich dazu die Möglichkeit, in unregelmässigen Abständen über Themen aus der Fussballwelt zu philosophieren, die in einem Spielbericht für gewöhnlich keinen Platz finden. Eine Kolumne, vielleicht auch einmal ein Interview, das ich hier wiedergebe. Humorvoll soll sie sein und zeitgleich zum Nachdenken anregen. Nicht immer soll sie objektiv sein, aber dennoch den Blickwinkel von ausserhalb nie ganz verlieren. Wie ein Zaungast eben.

Als ich das dritte Mal durch das Newsportal von SRF Sport scrolle, übermannt mich die Neugier. Widerwillig fahre ich mit dem Cursor auf den Beitrag und drücke darauf. Ein Fenster öffnet sich und zeigt mir ein Video an. Ich starte den Ausschnitt mit einem Klick auf die Play-Taste. Zu sehen sind Männer, gekleidet in grünen und gelben Trikots, die einem Ball hinterherrennen. Es handelt sich offensichtlich um ein Fussballspiel – eines aus diesem Jahrzehnt. Zumindest glaube ich das an der Kleidung der Spieler zu erkennen. Ihre Hosen sind eng und die Ärmel reichen kaum bis zum Ellenbogen. Nicht so wie bei den Trikots in den Spielen von früher, die das Schweizer Fernsehen seit einigen Wochen missbraucht, um die Programmlücke am Sonntagnachmittag zu füllen.

Das Niveau der Partie ist überschaubar. Ich schaue auf die Anzeigetafel. Es spielt GOR gegen BAT. Fehlt nur noch der Zusatz „-schow“ denke ich und muss ob meinem Einfall lachen. Mit dem Namen des letzten Präsidenten der Sowjetunion liege ich nicht weit daneben, was den Austragungsort betrifft. Es ist die weissrussische Liga, in der sich die Mannschaften vom FC Gorodeya und Bate Borisov gegenüber stehen. Zwar erkenne ich das Stadion am Stadtrand von Haradzeya, einer Siedlung südwestlich von Minsk, nicht, weiss aber durch meine vielen Fussballreisen die Kürzel den richtigen Mannschaften zuzuordnen. Die Zusammenfassung beschränkt sich auf die beiden sehenswerten Tore, die dem Rekordmeister und Favoriten aus Borisov den Weg zum Auswärtssieg ebnen. Einmal trifft ein Spieler via Direktabnahme und einmal mittels Lobs in der Nachspielzeit; die Hintermannschaft Gorodeyas war weit aufgerückt. Gespannt warte ich auf den Torjubel. Beide Male laufen die Spieler zur Eckfahne und bilden eine Jubeltraube. Von Social Distancing herrscht keine Spur.

Mit wenigen Ausnahmen steht der Fussball zurzeit auf der ganzen Welt still. Die Anglizismen in meinen Texten, die wie Penalty oder Captain meist aus dem Fussballjargon stammen, werden von Begriffen wie „Social Distancing“ abgelöst. Statt über den ersten Titelgewinn Liverpools seit dreissig Jahren berichten die Sportzeitungen darüber, wie der zweifache Weltfussballer Ronaldinho in einem Gefängnis in Paraguay zum Goalgetter avanciert. Eine Schlagzeile, die ich noch vor wenigen Monaten für unmöglich gehalten hätte. Damals hätte ich auch noch ungläubig gelacht, wenn mir jemand gesagt hätte, dass Zweitligist GC Zürich an einen chinesischen Investor verkauft wird.

An der Spitze der Übernahme steht mit Jenny Wang eine Frau. Sie ist mit dem Multimilliardär Guo Guangchang verheiratet; dieser hält sich beim Geschäft mit dem Schweizer Rekordmeister aber zurück. Als eine der ersten Handlungen ernennt Wang einen jungen Chinesen zum Club-Präsidenten, der auf den Namen Sky Sun hört.

Nun soll ausgerechnet die Ehefrau von Guangchang die Zürcher wieder in den Fussballhimmel führen. Das hat seine Gründe. Und diese finden sich nicht in den lauter werdenden Forderungen der Gesellschaft, mehr Managerpositionen mit Frauen zu besetzen. Vielmehr sind die Hintergründe rechtlicher und wirtschaftlicher Natur. Guangchang leitet die „Fosun International Limited“. Die Gruppe ist das grösste Konglomerat Chinas, das sich in Privatbesitz befindet. Weltweit investiert Fosun International in das Industrie-, Dienstleistungs- und Finanzwesen.

Damit verdient Fosun Geld; viel Geld. Und so entschlossen die chinesischen Geschäftsherren in den Fussball zu investieren. Seit knapp vier Jahren zählt der englische Premier-League-Klub Wolverhampton Wanderers zu ihrem Besitz. Über eine Tochtergesellschaft hält das Unternehmen zudem Anteile an der Firma des Spielerberaters Jorge Mendes. Zusammen mit dem gewieften Portugiesen möchte Fosun ein weltweites Konstrukt aufbauen, das mit den Transfers von Spielern Gewinn erzielt. GC ist ein Meilenstein auf der Suche nach einem Weg, die Regeln der Ligen und der FIFA zu umgehen. Zwar ist dieser Weg legal, doch er führt weit vorbei an Faninteressen und einem fairen Wettkampf auf und neben dem Spielfeld. In Zürich tut man gut daran, die Entwicklungen genau im Auge zu behalten. Denn vor dem Sturm ist es am Himmel bekanntlich besonders ruhig.

Fast noch schlimmer trifft es die Fans von Newcastle United. Im Gegensatz zu den Grasshoppers hege ich dem Verein aus dem Norden Englands gegenüber gewisse Sympathie. Ja mehr noch – ich hatte nach meinem Sprachaufenthalt vor einigen Jahren gar davon geträumt, einmal selbst als Chairman bei Newcastle United zu amten. Dort oben in der rauen Gegend, wo die Geordies auch bei Wind und Regen stolz das weiss-schwarze Trikot beim Einkaufen in der Grey Street tragen.

Nun soll ihr Traditionsverein nach Saudi-Arabien verkauft werden. Hinter dem Deal steht ausgerechnet der umstrittene Kronprinz Mohammed bin Salman. Zurecht kommt einem dieser Name bekannt vor. Bin Salman wird nämlich mit der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi in Verbindung gebracht. Newcastle United soll nun in die Rolle schlüpfen, um bin Salman reinzuwaschen und Personen, wie die Witwe Khashoggis, die aktiv gegen den Kronprinzen und die Übernahme ankämpfen, zum Schweigen zu bringen. Der Fall ist zum Politikum geworden, mittlerweile hat sich gar Amnesty International in die Debatte eingeschaltet. Es bleibt die Hoffnung auf eine Kehrtwende; auch wenn Moral im Kosmos Fussball zwischen den Zahlen immer weniger Platz zu finden scheint.