Vom Wandel der Zeit – bei einem gross gewordenen Klub und dessen Stadion, italienischen Fanszenen und bei mir selbst. Oder schlicht von Atalanta gegen Fiorentina im September 2024.

Je erfolgreicher Atalanta spielte, desto weniger begann ich mich für den Verein zu interessieren. Und das, obschon mein Interesse an der Göttin (Dea) aus Bergamo einst den Darbietungen der Norditaliener auf dem Rasen entsprang. Später waren es nebst der Fanszene das Stadion oder die Art, wie der Klub und seine Nachwuchsabteilung geführt wurden, mit denen ich sympathisierte. Spätestens mit der Verkauf der Mehrheit der Anteile an eine US-amerikanische Investorengruppe und dem Umbau des Stadions fielen diese Aspekte wieder weg.

Statt den Sieg im Europacup zu feiern, dachte ich sehnsüchtig an die Schmierereien am Kassenhäuschen hinter der Curva Nord zurück, an die Zeiten, als oberhalb des Gästeblocks noch die Ausläufer der Altstadt zu sehen waren. An die wackeligen Stufen der Curva Pisani, mit Gürtel bewaffnete Gäste-Ultras in den geöffneten Türen ausgedienter Linienbusse, die über die Piazzale Oberdan rasten oder an die «Lacrimogeni», welche die DIGOS auf der Viale Giulio Cesare um die Ohren geworfen bekamen.

Geht es generell um italienische Fanszenen, romantisiere ich aber auch mit Aspekten, die ich mir für jene Kurve, die ich selbst frequentiere, nicht wünsche: etwa einen barfüssigen, zugekifften Vorsänger mit Rastafrisur, der erst fünf Minuten nach Anpfiff im Gästeblock eintrifft. Auch verkläre ich alte Zeiten – insbesondere die 1990er-Jahre, welche ich selbst nur von Bildern und aus Erzählungen kenne. Denn auch vor dem Tod von Filippo Raciti und Gabriele Sandri war in Italiens Fanlandschaft nicht alles besser und die Stadion stets voller oder farbenfroher. Im Gegenteil: Das San Siro ist in den letzten Jahren so gut ausgelastet wie einzig in den Jahren rund um die Heim-WM, auch wenn die Curva Sud heute kaum mehr an eine italienische Fankurve erinnert und nicht nur in der Lombardei gedruckte Fahnen längst dazugehören.

Auch in Sachen Vereinspolitik und Öffentlichkeitsarbeit haben deutschsprachige Fanszenen und -bündnisse den Italienern den Rang abgelaufen. Dabei zählten die Fans aus Bergamo – gemeinsam mit ihren Erzrivalen aus Brescia und den einstigen Freunden von Sampdoria – 1995 zu den Vorreitern, die nach dem Tod von Vincenzo Spagnolo die Kräfte der italienischen Anhänger bündelten und an vorderster Front gegen den Artikel 8 oder personalisierte Tickets gekämpft haben. Heute tragen sie in Bergamos Nordkurve in den Wintermonaten eine Camouflage-Jacke, die es vom Verein zur Saisonkarte kostenlos dazu gab. Neben der Heimkurve ist ein Burger King eingezogen und der verbannte Claudio Galimberti (Bocia) züchtet Muscheln in Marotta, einem Dorf an der Küste in den Marken. Knapp drei Jahre nach der Auflösung der Curva Nord hat noch immer keine neue Gruppe das Zepter übernommen und in der Curva Morosini gegenüber lancieren die wenigen Ultras beim ersten Spiel auf der umgebauten Tribüne das Intro zehn Minuten zu früh.

Dennoch sind die Ultras wenige Tage vor meinem Besuch die ersten, die nach den Überschwemmungen bereitstehen und in ihrer Stadt beim Aufräumen mitanpacken. Vor dem Spiel gegen die Fiorentina erinnern bei bestem Spätsommerwetter nur noch die dreckigen Caterpillar-Stiefel, mit denen sie am Baretto Civico stehen, an das Unwetter der vergangenen Tage. Auch dem Vorsängerpodest und der in Bolgare durchgeführten Abwandlung des traditionellen «Festa della Dea» haben sie Claudios Absenz zu Ehren den Titel «Per chi non può esserci» verliehen. Allgemein macht den gestandenen italienischen Fanlagern in Sachen Erinnerungskultur kaum jemand etwas vor. Das beste Beispiel dafür ist die nach Maurizio Alberti benannte Curva Nord aus Pisa mit ihrer einfühlsamen Ode an die (Un)sterblichen aus den eigenen Reihen. Auch Videoausschnitte aus den Kurven in Barletta, Chieti, Giugliano, Matera oder San Benedetto del Tronto sowie Napolis Aufritte am Roma Termini 2008 und vier Jahre später beim Jubeln über Edinson Cavanis Tor im Final der Coppa Italia lassen mich ein Stück weit verstehen, weshalb deutsche Pizza-Wurstel-Hopperultras mit den Billigairlines von Paderborn nach Brindisi reisen, den Fans aus Cerignola die Aussprache von Fürth beizubringen versuchen oder in Latinas Curva Nord dem Muskelkater trotzend den Jahn-Schal so lange in die Höhe halten, dass auch die Konkurrenz aus der Heimat via «Sport People» von der mentalitätsgeschwängerten, ostbayerisch-latinischen Fanfreundschaft erfährt.

In keinem Land verspüre ich in den Stunden vor einer Partie derartiges Kribbeln wie in Italien. Die Besuche in Bergamo sind für mich mehr als die 90 Minuten im Stadion: Durch die Altstadt von Bèrghem zu schlendern und dem ostlombardischen «accento troppo spiccato» zu lauschen, Casonsei (mittlerweile eher Scarpinocc) zu geniessen oder die knusprigen Salbeiblätter der Taragna-Polenta zusammen mit dem Branzi auf der Zunge zergehen zu lassen und mit dem wohligen Gefühl eines Aperol Spritz hinunterzuspülen, der die nervenaufreibende Anfahrt vorbei an den Mautstellen (Pòta!), dem Smog und der Industrie vergessen macht. Im Winter versetzen mich die Sonnenstrahlen im Rücken beim Blick auf die «Città Bassa» in Gedanken an den Strand in Lerici zurück und rufen dieselbe nicht greifbare Melancholie hervor wie Gazzelles Debütalbum «Superbattito» in Endlosschleife. Dass ich mit diesem Gefühl nicht allein bin, bezeugt die Band Pinguini Tattici Nucleari im Lied über ihre Heimat Bergamo: «Ti porto in centro e forse capirai che cosa intendo quando ti dico che sei bella come casa mia.»

Im umgebauten Stadion von Atalanta ragen die neuen Flutlichter wie ein glühendes Damoklesschwert über den beiden historischen Seitentribünen, stets bereit, dem Bau den letzten Hauch vergangener Tage zu rauben, sollte der Denkmalschutz einst aufgehoben werden. Immerhin: Zum Duell gegen Florenz, das Bergamo vor ausverkauften Rängen mit 3:2 gewinnt, hängt in der Heimkurve das erste Mal seit dem Ende der Curva Nord wieder eine Zaunfahne mit der Aufschrift «Ultras» – als hätten sie es geahnt.