Fussball ist systemrelevant. So zumindest wirkt es für jene, die den Aussagen der Sportfunktionäre Glauben schenken. Seine gesellschaftliche Rolle ist unumstritten. Dass dem Fussball bei einer Pandemie gar eine soziokulturelle Sonderrolle zukommen soll, überrascht mich ebenfalls nicht. Ich sehe es bei mir selbst: Ich rede mit Freunden über vergangene Spiele, gemeinsame Reisen in Verbindung mit Fussball und denke an emotionale Momente im Stadion zurück. Der Fussball stärkt den Zusammenhalt und sorgt für Ablenkung.
Anmassend ist jedoch die Aussage, dass wir den Fussball brauchen würden. Ganz Deutschland lechze in dieser Not nach ihm, meint gar Ex-Natitrainer Ottmar Hitzfeld im Interview mit dem SRF. Er freue sich riesig auf den Wiederbeginn, fügt Hitzfeld an. Geschieht die Wiederaufnahme des Spielbetriebs nicht viel eher aus finanziellen Nöten heraus und nicht zum Wohl der Fans? Um ein System aufrecht zu erhalten, das hohe Abhängigkeiten schafft und finanziell weit weniger stabil ist, als vor der Krise angenommen. Auch in Italien drängen die Funktionäre auf einen raschen Wiederbeginn. Die Fans im stark betroffenen Land sind sich indes einig, dass der Gedanke an den Wiederbeginn der einzig wahre Virus sei. Hinter dem „Stadio Filadelfia“, der früheren Heimat des FC Torino, hing am Montag ein Spruchband der Ultras.
„Migliaia di morti in ogni città, ma voi pensate alla ripresa della Serie A.”
Tausende Todesfälle in jeder Stadt, aber ihr denkt an die Wiederaufnahme der Serie A. Eine Aussage, die unter die Haut geht. Und dennoch stellt sich die generelle Frage, ob es als Fan legitim ist, überhaupt Kritik zu äussern? Wir sind Teil des Systems, zusammen mit den Funktionären, den Journalisten und Spielern. Wir haben die Maschinerie Fussball schon weit vor der Krise als solche akzeptiert und gehen trotz fortschreitender Internationalisierung und Kommerzialisierung weiterhin Woche für Woche ins Stadion. Auch der VAR verdirbt uns nur kurzzeitig die Laune. Kommt der Aussage Hitzfelds also doch ein Stück Wahrheit zu? Zumal Süchtige Warnsignale ebenso ausblenden, wie die Ratschläge anderer.
Die Diskussion zeigt auch andere spannende Paradigmenwechsel. Zeitungen, die die Ultras noch vor Kurzem als „Schande des Fussballs“ betitelten, loben sie nun dank ihren karitativen Aktionen als Heilsbringer. Stattdessen geraten die Fussballspieler in mediale Kritik. Am öffentlichen Pranger müssen sie sich dafür rechtfertigen, weshalb sie nicht sofort eine Lohneinbusse in Kauf nahmen. Fussballer tragen in der Gesellschaft noch immer das Image des neureichen Machos. Salomon Kalou von Hertha BSC – ein scheinbar gutes Pflaster für digitale Fauxpas – nährt diese Stigmatisierung mit einer unbedachten Videobotschaft. In Holland drohen Vereine ihrem Verband für den Abbruch der Saison mit umfangreichen Klagen und in Nordfrankreich werden Petitionen gegen den Abstieg gestartet. Auch wenn deren Erfolg bescheiden ausfallen wird. Es bewegt die Massen schlicht nicht, wenn der designierte Absteiger Amiens und nicht Lyon oder Paris heisst. In Zürich und Gladbach hatten hingegen Marketingfachleute eine zündende Idee: Gegen Bezahlung sollen Pappfiguren von Fans – zusammen mit der künstlich eingespielten Stimmung der Pay-TV-Sender – für das ultimative Fussballerlebnis von der Couch aus sorgen.
Eines ist klar: Der Sport selbst rückt zurzeit in den Hintergrund. Und mittendrin in dieser verrückten (Fussball-)welt steht der FC St. Gallen seit über drei Monaten an der Tabellenspitze der Super League. Emotional und sportlich auf dem Weg zum vermeintlichen Meistertitel ausgebremst – es passt in diese Zeit.