Es hörte sich zu gut an, um wahr zu sein: Die Chance auf Heimspiele von Wydad und Raja Casablanca am selben Wochenende in der afrikanischen Champions League. So war ich denn auch nervöser als vor anderen Reisen. Ich bangte erstmals um ein negatives Testresultat, stellte mir vier statt nur einen Wecker, wählte bewusst eine frühere Verbindung zum Flughafen und traute der Sache selbst dann noch nicht, als ich am Zoll in Marokko mein «Fiche sanitaire» dem Zöllner durch die Luke schob.
Erst als ich im Zug ins Stadtzentrum sass und wusste, dass ich soeben eine weitere Hürde gemeistert hatte, löste sich ein Teil meiner Anspannung. Der Hürdenlauf hatte bereits vor dem Reisetag begonnen. Nebst den sich stets ändernden Reisebestimmungen kam es nur Wochen zuvor im Ligaspiel zwischen FAR Rabat und Maghreb Fès zu heftigen Ausschreitungen, sodass mein Besuch im Stade Mohammed V auf der Kippe stand. Der Verband sah jedoch von einer ligaweiten Kollektivstrafe ab und brummte lediglich den Hauptstädtern aus Rabat Geisterspiele bis zum Saisonende auf.
Liebeskummer auf Marokkanisch
Den Anfang der beiden Klubs aus der grössten marokkanischen Stadt sollte an diesem Wochenende Wydad machen. Wie Stadtrivale Raja war auch der 1937 als Schwimmverein gegründete Rekordmeister bereits vor dem abschliessenden Gruppenspiel für das Viertelfinal der Champions League qualifiziert. Zwischen dem Vertreter aus Casablanca und dem angolanischen Klub Petro de Luanda sollte nun der Gruppensieger ausgespielt werden – im erst dritten Heimspiel mit Zuschauern. Diese mussten während der Pandemie ihrer «Wydad» (im Arabischen verkörpert der Ausdruck das Wort Liebe) lange fernbleiben.
Seine treusten Liebhaber findet der Klub in den Ultras Winners, der grössten Gruppierung der Rot-Weissen, die seit 2005 existiert. Deren Auftritte dürften jedem Fussballfan, dessen Interesse über den Spielfeldrand hinausgeht, bekannt sein. Besonders an den Hauswänden und Mauern der Medina sind ihre Liebesbekundungen omnipräsent. Das Logo der Winners erinnert an die Fedayn aus Napoli und so weht jeweils auch in der Curva Nord eine Fahne mit dem Namen der legendären italienischen Ultràs.
Wer die Show der Winners an diesem Samstagabend nicht verpassen wollte, hatte zwei Kontrollringe, eine Körperkontrolle sowie ein Drehkreuz zu überwinden. Auch wenn der Anpfiff nach diesem Prozedere noch immer über zwei Stunden in der Ferne lag, boten sich den zahlreichen Anwesenden bereits jetzt allerhand spannende Szenerien: Im einen Eck überstiegen etwa Leute die hohen Gitter auf dem Weg aus dem vollen Heimblock zur Haupttribüne, auf der Gegenseite rannte eine Gruppe Jugendlicher in entgegengesetzter Richtung quer über die Sitzschalen, um sich einen Platz hinter dem Tor zu ergattern. Währenddessen transportierten Sanitäter im Viertelstundentakt bewusstlose Heimfans aus der Menge ab.
Selbstregulierung mit Hintergedanken
Auch der Umgang mit Pyrotechnik überraschte mich. Wie mir mein Sitznachbar erklärte, würde der Gebrauch von Feuerwerkskörpern – im Gegensatz zum Ligaalltag – in der Champions League vom Verband rigide und kompromisslos mit Geisterspielen sanktioniert. Weil kein Wydadi sein Team noch länger nur am Fernseher mitverfolgen will, schlugen sich die Anhänger die Fackeln gegenseitig aus der Hand. Auch die Tatsache, dass das Tragen von Fanutensilien der Ultras Männern vorbehalten ist, sorgte für Tumulte. So hatte ein Fotoversuch mit einem Winners-Schal unmittelbar neben mir etwa eine verängstigte europäische Ehefrau eines Marokkaners zu Folge, die wohl weder ihren Gatten noch dessen Landsmänner je so laut hat schreien hören.
Als schliesslich beide Teams den Rasen betraten, erhellte tatsächlich kaum Feuerwerk den Nachthimmel. Stattdessen unterstrich die Heimkurve den Schriftzug «These games are first aid, but we’re afraid the damage can’t be repaired» mit einer grossen Zettelchoreo, die das Wort «Homesick» formte und auf die – hoffentlich vergangene – Zeit mit dem omnipräsenten Virus anspielte. Zumindest bei mir war der Abend aber Kompensation genug, um den «Schaden» aus den letzten zwei Jahren zu reparieren.
Denn was nach dem sehenswerten Intro folgte, war – auch dank des günstigen Spielverlaufs – etwas vom Besten, was ich bisher in einem Fussballstadion miterleben durfte: Eine Kurve, die angepeitscht von einem einzigen Capo geschlossen ihre Mannschaft in einer brachialen Lautstärke zum Sieg trieb und euphorisch die mehrstrophigen Melodien in die Nacht hinaustrug. Für ihren Auftritt wurden die Wydad-Fans belohnt. Aus einer 3-Tore-Führung nach einer halben Stunde resultierte zum Schluss vor offiziell 41‘413 Zuschauern ein 5:1-Erfolg und damit der hochverdiente Gruppensieg.