Gresik United - Deltras FC

Nach zwei Partien in Solo – darunter ein Heimspiel der PS Sleman im Exil – bot sich eine Weiterreise nach Ost-Java an, wo es zum Derby zwischen Gresik United und den Deltras Sidoarjo kommen sollte. Von dieser Idee liessen sich nebst meinem Fahrer Tito mit Panji und Yanuarisnan zwei weitere Personen aus dem Kern der Brigata Curva Sud begeistern. Damit das Quartett am Folgetag zeitig und ausgeschlafen in Richtung Osten aufbrechen konnte, offerierte ich allen Mitfahrern ein Hotelzimmer in Solo. Pures Wunschdenken, wie ich am nächsten Morgen in der Hotellobby erfahren sollte, als mir Panji die Aussage des schelmisch grinsenden Tito übersetzt, dass sie direkt nach der Partie wieder zurück nach Sleman gefahren seien und die Nacht und Niederlage im Alkohol ertrunken hätten.

Die kurvigen Strassen, auf denen sich unsere Reisegruppe den Weg durch das Landesinnere an die Küste bahnt, sind nichts für flaue Mägen und schwache Nerven. Obschon Tito einer der offensivsten Verkehrsteilnehmer darstellt, ist er auch einer der aufmerksamsten und beeindruckt mehrmals mit wahnsinnigen Reflexen beim Ausweichen von Lastwagen, die in blinden Kurven plötzlich auf unserer Spur auftauchen. Trotz Müdigkeit lenkt er das Gefährt sicher nach Tuban, wo er während der Partie etwas Schlaf nachholen will. Dies obwohl Danial die gesamte Reisegruppe ans Spiel einlud. Eine äusserst nette Geste des Funktionärs von Gresik United, der sich damit dafür bedankte, dass ich ihm vor Jahren einmal bei seiner Masterthesis zu den Strukturen europäischer Fussballklubs geholfen hatte.

Tickets waren an diesem Montagnachmittag allerdings kein rares Gut, da der Verband und die Polizei auch diesem einst vielversprechenden Zweitliga-Derby mit einer Anstosszeit unter der Woche und an einem neutralen Ort den Zahn gezogen hatten. Weiter heisst es in Tuban, zwei Stunden von Gresik entfernt, ebenfalls «Tanpa Penonton Tamu», sodass unter den 2971 Zuschauern keine Gästefans weilen. Zumindest dieses Verbot ist nachvollziehbar, war es beim letzten Duell zwischen den beiden Städten, die nördlich (Gresik) und südlich (Sidoarjo) von Surabaya liegen, doch zu heftigen Ausschreitungen gekommen.

Ohne den Gegenpart auf den Rängen vermögen die «Heimfans» ihr grosses akustisches Potenzial nicht abzurufen. Lange Zeit fehlt im spärlich gefüllten Stimmungsblock gar ein Vorsänger, sodass einzig der Ausgleich von Sidoarjo in der Nachspielzeit zum 1:1 sowie das anschliessende Gerücht, dass vor den Stadiontoren einige Deltras-Anhänger gesichtet wurden, die für Indonesien typischen Emotionen hervorzurufen vermögen. Auch die Ultras Gresik, die 1999 als erste Gruppierung in Indonesien den bekannten Zusatz im Namen aufwiesen, existieren nicht mehr. Am ehesten noch erinnern einige Zaunfahnen im Stil der Boys Parma an die starke italienische Prägung dieser historischen Kurve.

Als Tito und Yanuarisnan nach dem Schlusspfiff verspätet und in Feierlaune am Tuban Sport Center vorfahren, ahne ich bereits Böses. Natürlich hatten die beiden in der Zwischenzeit kein Auge zugemacht und stattdessen mit der lokalen Sektion der Brigata Curva Sud zusammengesessen, Nelkenzigaretten geraucht und Arrak getrunken. Es gibt definitiv angenehmere Situationen, als mit einem angetrunkenen und übernächtigten Fahrer die sechsstündige Heimreise zu bestreiten. Spätestens als sich Tito über die grellen Lichter auf der Gegenfahrbahn beschwerte und ihn sein Beifahrer sowie treuer Trinkkumpane Yanuarisnan zu besonders waghalsigen Überholmanövern anspornte, war auch für mich der Moment gekommen, wie Sitznachbar Panji die Augen zu schliessen und mich dem Schicksal zu ergeben.


Adhyaksa FC - Persijap Jepara

Der Wutanfall von Persiraja-Spieler Andik Vermansyah im Duell mit Pekanbaru sollte gleich zwei Parteien teuer zu stehen kommen: einerseits seinen Klub aus Banda Aceh, der für die anschliessenden Rudelbildungen mit vier Geisterspielen sanktioniert wurde, und andererseits meine Wenigkeit, die eine Reise in den Norden Sumatras bereits gebucht hatte. Das Derby gegen Medan ohne die Unterstützung von den Rängen zu besuchen, war mir den langen Flug nicht wert, zumal Persiraja als Antwort auf die Strafe kurzfristig den Austragungsort wechselte und nicht das sehenswerte Stadion Harapan Bangsa bespielte.

Die vorherigen Besuche in Indonesien hatten mich aber gelehrt, stets einen Plan B bereitzuhalten. Das Stadion Sriwedari in Solo (Surakarta) ist zumindest aus architektonischer Sicht eine wertige Alternative, schliesslich handelt es sich hierbei um eine denkmalgeschützte Spielstätte, die über eine Tribüne mit Massivholzbänken im VIP-Bereich und ein Giebeldach verfügt. Mit dem Baujahr 1932 stellt das Stadion eines der ältesten des Landes dar und gar das erste, das nicht unter niederländischer Kolonialherrschaft erbaut wurde. Die von Bäumen gesäumten Stehtraversen erinnern an die Heimat von Slavia Sofia und lassen das Herz eines Fussballromantikers höher schlagen.

Der Verband hatte der Allgemeinheit zwar auch den Besuch der Zweitliga-Partie in Solo untersagt, die fragwürdige Massnahme stellte für mich dank Edwin Klok aber kein Hindernis dar. Mit dem Niederländer, der seit vielen Jahren in Indonesien lebt, tausche ich mich regelmässig über den lokalen Fussball und seine Fanszenen aus. Der frühere Sportchef des lokalen Erstligisten Persis schleuste mich denn auch problemlos an der Polizei vorbei ins Stadion, wo der Schiedsrichter eine halbe Stunde später als angekündigt anpfiff. Gestört hat es niemanden, genauso wenig wie die Tatsache, dass bis zur Halbzeit insgesamt 243 Zuschauer das Stadion betreten hatten und damit die Inkonsequenz der indonesischen Exekutive beispielhaft unterstrichen. Einzig die in kleiner Zahl angereisten Persijab-Fans wurden von den Ordnungshütern konsequent vom Eingang ferngehalten, sodass sie sich nach einiger Zeit mit der Aussicht von einer Mauer gegenüber begnügen. Edwin, der mittlerweile als Assistent des Technischen Direktors bei Persik Kediri im Osten Javas amtet, musste schmunzeln und beschrieb die Anhänger passend als «Walltras».

Das Drumherum sowie die Gespräche mit dem Kollegen aus Deventer waren denn auch deutlich unterhaltsamer als das lahme Treiben auf dem Rasen. Bei 37 Grad sündigte das Heimteam mehrfach, sodass es sich über das 0:1 gegen Jepara nicht beklagen durfte. Ausgeglichen präsentierte sich hingegen die Zahl der Aluminiumtreffer und der Platzverweise – immerhin ein wenig Gerechtigkeit für Adhyaksa, der Mannschaft der indonesischen Staatsanwalt. Diese stieg auf diese Saison hin in die zweite Liga auf und stammt eigentlich aus Kelapa Dua im Bezirk Tangerang in West-Java. Weil den «Prosecutors» in einem Land mit antiautoritär geprägter Zivilgesellschaft aber sowieso kaum jemand die Daumen drückt, spielt die Mannschaft aus Kostengründen im Exil.


Persipa Pati - Persikas Subang

«I chose not to sleep», meint Radhifan, als ich mich am Morgen auf dem Hotelflur nach seinem Wohlergehen erkundige. Viele Indonesier sind nachtaktiv und legen nach einem gemächlichen Start meist bis in die späten Abendstunden grosse Ausdauer an den Tag – allerdings nur selten im Arbeitskontext. Immerhin gestaltet sich der heutige Auftakt gemächlich, schliesslich liegt Patinggo, das lediglich Pati genannt wird, nicht weit entfernt in nordöstlicher Richtung.

Die 100‘000-Einwohner-Stadt ist wie Kudus Heimat eines Zweitligisten. Im Unterschied zu Persiku trägt Persipa seine Partien auf künstlicher Unterlage aus, die in Indonesien auf dieser Stufe gerade noch erlaubt ist. Allgemein ist dem Klub anzumerken, dass er aufgestiegen ist. Wie mir der Medienchef verrät, wurde Persipa noch in der Drittklassigkeit von seinen Supportern geführt, die seit dem Aufstieg schrittweise den Gang von den Tribünen in die Vereinsetage angetreten haben. So zeigen sich die beiden Klubfotografen ob der Präsenz des bekannten «Tito Klasik» von der grossen Brigata Curva Sud aus Sleman fast noch euphorischer als über die ebenfalls sehr seltene eines «Bule» (Ausländer).

Während ich in der prallen Sonne am Spielfeldrand stehe, hat Tito über den Berater des Persipa-Captains, der aus der Akademie von PSS stammt, für den Rest der Reisegruppe Tickets für die Ehrentribüne organisiert. Doch nicht nur die Hitze und die Anstosszeit an einem Montagnachmittag, sondern auch die bescheidene sportliche Ausgangslage sorgen dafür, dass die Tribünen im Stadion Joyokusumo nur spärlich gefüllt sind. In der zweiten Division der zweiten Liga steht Persipa derzeit auf dem zweitletzten Platz, einzig der heutige Gast aus Subang ist schlechter klassiert und hat in der laufenden Saison noch gar kein Spiel gewonnen. Ein Sieg ist für die Gastgeber vor 442 Zuschauern deshalb Pflicht. Auf zusätzliche Motivation von den Rängen dürfen sie sich bei diesem Krisengipfel allerdings nicht verlassen: Sowohl die Mania «Resimen Patifosi» auf der Nordtribüne als auch die Ultras der «Patifosi Tribun Selatan» gegenüber befinden sich aufgrund der enttäuschenden sportlichen Ergebnisse im Boykott.

Ein wenig nachvollziehbares Verhalten, schliesslich überrascht die Platzierung des Aufsteigers in der noch jungen Saison nicht wirklich und genau in solchen Spielen braucht das Team besondere Unterstützung. Hier aber erntet ein älteres Mitglied der Mania stattdessen Spott von den anderen Tribünen, als es zusammen mit ein paar jungen Pati-Anhängern versucht, nach dem Tor zum 1:0 den Boykott in Eigenregie aufzuheben. Immerhin: Weil in der Folge kein Treffer mehr fällt, zeigt sich die Fanszene Patis versöhnlich und versammelt sich nach dem Schlusspfiff hinter den Stadionmauern und feiert die drei Punkte mit lautstarken Gesängen.


Persiku Kudus - PSIM Jogjakarta

Weil das in Indonesien seit der Kanjuruhan-Tragödie verhängte Verbot für Gästefans auch für die Partie zwischen Sleman und Barito Putera (einem kleinen Klub aus Borneo) im nahegelegenen Exil in Bantul greift, steht einem dreitägigen Roadtrip mit Führungsleuten der Brigata Curva Sud (BCS) als Alternative nichts im Weg. Nebst Radhifan, der am Vorabend nach den zuletzt schlechten Leistungen mit dem PSS-Captain noch ein Hühnchen gerupft hatte und aufgrund seiner Statur von allen nur «Kebo» (Büffel) gerufen wird, sind Fahrer Tito, der als Mittdreissiger die alte und junge Generation verbindet, und Nanda mit von der Partie, der von Tito angelehrt wird und schrittweise in dessen Fussstapfen tritt. Zumindest im Strassenverkehr hoffe ich jedoch nicht, dass er Tito nachzuahmen versucht. Dieser treibt den Toyota Avanza immer wieder hochtourig und lässig rauchend links an der stehenden Kolonne vorbei über die staubigen Schotterpisten in Richtung Kudus.

Dennoch erreichen wir die 100‘000-Einwohner-Stadt im Norden der Insel Java sicher und früh genug, damit es mir noch zu einem Stadtrundgang reicht. Die starke islamische Prägung lässt sich hier primär anhand der grossen Moschee erkennen, welche die einzige klassische Sehenswürdigkeit darstellt. Wie so oft in wenig touristisch erschlossenen Regionen Indonesiens bietet das Alltagsleben in den Seitengassen daneben aber mehr Unterhaltung, während der Rest der Reisegruppe mit Schnapsflaschen bewaffnet im Hotelzimmer die Vereidigung des neuen Präsidenten Prabowo Subianto verfolgt. Als ich dort eintreffe, hat sich die BCS-Sektion Kudus zum Trio gesellt. Meinen Wunsch, mich nach dem europäischen Abendessen vom Vortag (im Anschluss an einen weiteren Spielbesuch bei Persis Solo) doch bitte nicht wie einen Backpacker zu behandeln, nimmt die Gruppe beim Wort und schleppt mich stattdessen zur Markthalle. Hier gibt es definitiv lokales Essen und ich muss kurz wegblicken, als ich einige Ratten die Dachrinne entlangrennen sehe. Mit Tahu, Tempeh, Kailan, Nasi Pecel und Lumpia Sayur sowie dem Saft einer frischen Degan ist man als Tierliebhaber aber sowieso oftmals auf der sicheren Seite.

Der Grunddurchgang der zweiten Liga wird in dieser Saison in drei Gruppen ausgetragen. Zur zweiten Staffel zählt auch Persiku Kudus, das mit dem Tabakkonzern «PT Djarum» einen lokalen und finanzstarken Unterstützer aufweist, stammt doch Gründer Budi Hartono aus der Region und gewährleistet über suchtmittelferne Subunternehmen – ähnlich wie bei Como Calcio – den nicht versiegenden Geldfluss. Die Partie gegen den Klub aus Jogjakarta ist für den Aufsteiger ein Highlight, weist PSIM nebst einer grossen Historie doch auch einen berüchtigten Anhang auf. Dies macht den Tag für unseren Fahrer Tito nicht gänzlich ungefährlich. Zwar gönnen sich die rivalisierten indonesischen Fanszenen seit dem Stadionunglück im Oktober 2022 eine Verschnaufpause, dem Anführer des Erzfeindes fern seiner Heimat über den Weg zu laufen, würden aber wohl auch sie nicht ungenutzt lassen.

Keine Gefahr geht hingegen von den heimischen «Suporter Macan Muria» aus, die sich bei der Namenswahl von einem nahegelegenen Vulkan und beim Wappen von einem Tiger inspirieren liessen, wie auf einer schönen Zaunfahne ersichtlich ist. Als beim Anpfiff eine kleine Gruppe an PSIM-Fans ins Stadion drängt, zeigt sich die Raubkatze aber harmlos und überlässt den Gästen kampflos den Rand ihrer Tribüne. Im Verlauf des Spiels bahnen sich weitere Anhänger aus Jogjakarta den Weg auf die Ränge, sodass der letzte Torjubel Gästefans an fünf Standorten – ausser im geschlossenen Gästesektor – lokalisieren lässt. Der Grossteil von ihnen hatte in der Halbzeitpause die Eingangskontrollen überlaufen und damit die eigene Anreise legitimiert. Dieser Realität sollte besser auch Verbandschef Erick Thohir ins Auge blicken, will er das Risikopotenzial in indonesischen Fussballstadien tatsächlich nachhaltig reduzieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Solidarität unter den beiden Fanlagern, boten vor der Partie doch einige Persiku-Fans den PSIM-Anhängern ihre Ausweise für den Abgleich am Stadioneingang an.

Auch auf dem Rasen zollen die heimischen Akteure der Gegenseite (zu) viel Tribut. Die defensive Ausrichtung bewahrt Persiku jedoch nicht vor einer 0:5-Pleite, die auch in der Höhe verdient ausfällt. Dies bestätigt nicht nur die Körpersprache von Seto, dem ehemaligen PSS-Trainer im Dienst von PSIM, sondern auch der Zynismus der Heimfans, die – um die eigene Vereinsführung zu verärgern – plötzlich anfangen, PSIM-Fangesänge zu intonieren. Zuvor war die Stimmung unter den 5178 Zuschauern aufgrund des Spielverlaufs und der lange Zeit abwesenden Gästeanhänger eher bescheiden ausgefallen.


Cercle Brügge - FC St. Gallen

Auf den Tag genau elf Jahre nach dem Europa-League-Auftritt in Swansea gastiert der FCSG wieder in einer europäischen Gruppenphase. Dies realisiere ich am Vorabend der Abreise, während ich – wie der Schüler von damals – meinen Reiseproviant packe. Wehmütig suche ich nach Parallelen und Entwicklungen – und stelle fest: St. Gallen ist noch immer eine kleine Stadt mit grossen Träumen, auch wenn sie im Vergleich zum Duell mit den Walisern auf internationaler Ebene mittlerweile einen Wettbewerb tiefer und gegen scheinbar weniger ruhmreiche Gegner zu Werke geht.

Dafür überzeugt mit Brügge – wie in den Runden zuvor – die Reisedestination. Zwischen «Vlaamse Frites», belgischem Hausbier und mit Schokolade überzogenen Waffeln dominiert in den Gassen um den Burgplatz und den «Grote Markt» am Spieltag bereits zur Mittagszeit die grün-weisse Glückseligkeit. Wer sich nicht den kulinarischen Versuchungen der 120’000-Einwohner-Stadt in Westflandern hingibt, geniesst bei bestem Herbstwetter den Blick vom Rosenkranzkai auf den Belfort, oder jener von der Bonifatiusbrücke auf die Liebfrauenkirche. Kein Wunder zählt das mittelalterliche Zentrum Brügges mit seinen Kanälen seit der Jahrtausendwende zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Weniger ästhetisch präsentiert sich die Spielstätte am westlichen Stadtrand. Von Beton dominiert, erinnert der Bau eher an das Stadion in Salerno als an einen renovierten Austragungsort der EM 2000. Weil sich nebst der belgischen Regierung bei den damaligen Renovationskosten auch die Flämische Gemeinschaft beteiligte, trägt die Heimat der beiden lokalen Erstligisten den Namen Jan-Breydel-Stadion, der auf Jan Breydel zurückgeht, der 1309 den städtischen Aufstand gegen den französischen König angeführt hatte.

Wie die Ostschweizer spielt auch Cercle in dieser Saison die bisher längste Europapokal-Kampagne seiner Geschichte, die bis ins Jahr 1899 zurückreicht. Trotz der überschaubaren Anhängerschaft ist der Klub ein wahrer Traditionsverein, was auch die Matrikelnummer 12 belegt, die jeder belgischer Fussballklub vom Verband auf Basis seines Gründungsjahres zugewiesen bekommt. Auch der Trophäenschrank der Belgier ist ähnlich leer und verstaubt wie jener des FCSG, liegen die einzigen drei Meistertitel – nebst zwei Pokalsiegen – doch fast ein Jahrhundert zurück. Für frischen Glanz sollte vor zwei Jahren das Rebranding durch eine lokale Agentur sorgen, die das bereits gewöhnungsbedürftige Klubwappen mit einem Kalligramm im schrillen Grünton aber weiter verunstaltet und die Fangemeinde damit entrüstet hatte. Diese spielt – wie auch der Klub selbst – in der Stadt hinter dem Rivalen Club Brügge nur die zweite Geige. Der Name von Cercle geht auf die Gründerväter zurück, die sich der Bedeutung des französischen Wortes für «Kreis» im Kontext einer «Gemeinschaft» bedienten.

Für den FC St. Gallen und seine 1500 mitgereisten Fans, die sich nach den gelungenen Auftritten in der Qualifikation zur Conference League auch zum Auftakt der Ligaphase Chancen ausgerechnet hatten, setzte es in Brügge einen herben Dämpfer ab. Die Grün-Weissen schienen die Belgier nach deren bescheidenem Saisonstart unterschätzt zu haben und die Partie war nach der frühen Führung vor 5395 Zuschauer bereits nach wenigen Minuten entschieden. Bis zum Schlusspfiff schraubte Cercle das Verdikt auf 6:2 Tore. Immerhin bleiben dem FC St. Gallen dieses Mal gleich fünf Partien Zeit für eine Korrektur.


Zaungast #10: Im Wandel der Zeit

Vom Wandel der Zeit – bei einem gross gewordenen Klub und dessen Stadion, italienischen Fanszenen und bei mir selbst. Oder schlicht von Atalanta gegen Fiorentina im September 2024.

Je erfolgreicher Atalanta spielte, desto weniger begann ich mich für den Verein zu interessieren. Und das, obschon mein Interesse an der Göttin (Dea) aus Bergamo einst den Darbietungen der Norditaliener auf dem Rasen entsprang. Später waren es nebst der Fanszene das Stadion oder die Art, wie der Klub und seine Nachwuchsabteilung geführt wurden, mit denen ich sympathisierte. Spätestens mit der Verkauf der Mehrheit der Anteile an eine US-amerikanische Investorengruppe und dem Umbau des Stadions fielen diese Aspekte wieder weg.

Statt den Sieg im Europacup zu feiern, dachte ich sehnsüchtig an die Schmierereien am Kassenhäuschen hinter der Curva Nord zurück, an die Zeiten, als oberhalb des Gästeblocks noch die Ausläufer der Altstadt zu sehen waren. An die wackeligen Stufen der Curva Pisani, mit Gürtel bewaffnete Gäste-Ultras in den geöffneten Türen ausgedienter Linienbusse, die über die Piazzale Oberdan rasten oder an die «Lacrimogeni», welche die DIGOS auf der Viale Giulio Cesare um die Ohren geworfen bekamen.

Geht es generell um italienische Fanszenen, romantisiere ich aber auch mit Aspekten, die ich mir für jene Kurve, die ich selbst frequentiere, nicht wünsche: etwa einen barfüssigen, zugekifften Vorsänger mit Rastafrisur, der erst fünf Minuten nach Anpfiff im Gästeblock eintrifft. Auch verkläre ich alte Zeiten – insbesondere die 1990er-Jahre, welche ich selbst nur von Bildern und aus Erzählungen kenne. Denn auch vor dem Tod von Filippo Raciti und Gabriele Sandri war in Italiens Fanlandschaft nicht alles besser und die Stadion stets voller oder farbenfroher. Im Gegenteil: Das San Siro ist in den letzten Jahren so gut ausgelastet wie einzig in den Jahren rund um die Heim-WM, auch wenn die Curva Sud heute kaum mehr an eine italienische Fankurve erinnert und nicht nur in der Lombardei gedruckte Fahnen längst dazugehören.

Auch in Sachen Vereinspolitik und Öffentlichkeitsarbeit haben deutschsprachige Fanszenen und -bündnisse den Italienern den Rang abgelaufen. Dabei zählten die Fans aus Bergamo – gemeinsam mit ihren Erzrivalen aus Brescia und den einstigen Freunden von Sampdoria – 1995 zu den Vorreitern, die nach dem Tod von Vincenzo Spagnolo die Kräfte der italienischen Anhänger bündelten und an vorderster Front gegen den Artikel 8 oder personalisierte Tickets gekämpft haben. Heute tragen sie in Bergamos Nordkurve in den Wintermonaten eine Camouflage-Jacke, die es vom Verein zur Saisonkarte kostenlos dazu gab. Neben der Heimkurve ist ein Burger King eingezogen und der verbannte Claudio Galimberti (Bocia) züchtet Muscheln in Marotta, einem Dorf an der Küste in den Marken. Knapp drei Jahre nach der Auflösung der Curva Nord hat noch immer keine neue Gruppe das Zepter übernommen und in der Curva Morosini gegenüber lancieren die wenigen Ultras beim ersten Spiel auf der umgebauten Tribüne das Intro zehn Minuten zu früh.

Dennoch sind die Ultras wenige Tage vor meinem Besuch die ersten, die nach den Überschwemmungen bereitstehen und in ihrer Stadt beim Aufräumen mitanpacken. Vor dem Spiel gegen die Fiorentina erinnern bei bestem Spätsommerwetter nur noch die dreckigen Caterpillar-Stiefel, mit denen sie am Baretto Civico stehen, an das Unwetter der vergangenen Tage. Auch dem Vorsängerpodest und der in Bolgare durchgeführten Abwandlung des traditionellen «Festa della Dea» haben sie Claudios Absenz zu Ehren den Titel «Per chi non può esserci» verliehen. Allgemein macht den gestandenen italienischen Fanlagern in Sachen Erinnerungskultur kaum jemand etwas vor. Das beste Beispiel dafür ist die nach Maurizio Alberti benannte Curva Nord aus Pisa mit ihrer einfühlsamen Ode an die (Un)sterblichen aus den eigenen Reihen. Auch Videoausschnitte aus den Kurven in Barletta, Chieti, Giugliano, Matera oder San Benedetto del Tronto sowie Napolis Aufritte am Roma Termini 2008 und vier Jahre später beim Jubeln über Edinson Cavanis Tor im Final der Coppa Italia lassen mich ein Stück weit verstehen, weshalb deutsche Pizza-Wurstel-Hopperultras mit den Billigairlines von Paderborn nach Brindisi reisen, den Fans aus Cerignola die Aussprache von Fürth beizubringen versuchen oder in Latinas Curva Nord dem Muskelkater trotzend den Jahn-Schal so lange in die Höhe halten, dass auch die Konkurrenz aus der Heimat via «Sport People» von der mentalitätsgeschwängerten, ostbayerisch-latinischen Fanfreundschaft erfährt.

In keinem Land verspüre ich in den Stunden vor einer Partie derartiges Kribbeln wie in Italien. Die Besuche in Bergamo sind für mich mehr als die 90 Minuten im Stadion: Durch die Altstadt von Bèrghem zu schlendern und dem ostlombardischen «accento troppo spiccato» zu lauschen, Casonsei (mittlerweile eher Scarpinocc) zu geniessen oder die knusprigen Salbeiblätter der Taragna-Polenta zusammen mit dem Branzi auf der Zunge zergehen zu lassen und mit dem wohligen Gefühl eines Aperol Spritz hinunterzuspülen, der die nervenaufreibende Anfahrt vorbei an den Mautstellen (Pòta!), dem Smog und der Industrie vergessen macht. Im Winter versetzen mich die Sonnenstrahlen im Rücken beim Blick auf die «Città Bassa» in Gedanken an den Strand in Lerici zurück und rufen dieselbe nicht greifbare Melancholie hervor wie Gazzelles Debütalbum «Superbattito» in Endlosschleife. Dass ich mit diesem Gefühl nicht allein bin, bezeugt die Band Pinguini Tattici Nucleari im Lied über ihre Heimat Bergamo: «Ti porto in centro e forse capirai che cosa intendo quando ti dico che sei bella come casa mia.»

Im umgebauten Stadion von Atalanta ragen die neuen Flutlichter wie ein glühendes Damoklesschwert über den beiden historischen Seitentribünen, stets bereit, dem Bau den letzten Hauch vergangener Tage zu rauben, sollte der Denkmalschutz einst aufgehoben werden. Immerhin: Zum Duell gegen Florenz, das Bergamo vor ausverkauften Rängen mit 3:2 gewinnt, hängt in der Heimkurve das erste Mal seit dem Ende der Curva Nord wieder eine Zaunfahne mit der Aufschrift «Ultras» – als hätten sie es geahnt.


FC Paradiso - FC St. Gallen

«Wenn jemand sucht, dann geschieht es leicht, dass sein Auge nur noch das Ding sieht, das er sucht, dass er nichts zu finden, nichts in sich einzulassen vermag, weil er nur an das Gesuchte denkt, weil er ein Ziel hat, weil er vom Ziel besessen ist. Finden aber heisst: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben.» Das «Ding» oder «Ziel» in den Zeilen aus Siddhartha von Hermann Hesse verkörpert im Kontext des FC St. Gallen der Schweizer Cup-Pokal.

Gleich zwei Mal hatte Grün-Weiss in den letzten Jahren aufgrund der besessenen Sucherei auf Rang und Rasen das Finden vergessen und das Endspiel im Pokalwettbewerb verloren. Schmerzhafte Erinnerungen, sodass angesichts der 1/16-Final-Partie des FC St. Gallen in Montagnola, wo Hesse das zitierte Werk geschrieben hat, das Finden im Fokus stand.

Gefunden habe ich im kleinen Tessiner Dorf sowohl die Casa Camuzzi als auch die Casa Rossa mit ihrer wunderschönen Aussicht, in denen der Schriftsteller lebte und später seinesgleichen wie Thomas Mann oder Bertolt Brecht politisches Asyl bot. Noch vor Hesses Tod hatten sich mit Friedrich Pollock und Max Horkheimer auch ein Wegbereiter und ein Gründer der Frankfurter Schule nach ihrer Emeritierung in Montagnola niedergelassen. Auf dem nahegelegenen Friedhof erinnert ein unscheinbares Grab an den Nobelpreisträger Hesse.

Als unscheinbar lässt sich auch die Heimat des drittklassigen FC Paradiso bezeichnen. Das «Campo Pian Scairolo» liegt weit unterhalb des Dorfkerns im industriell geprägten Talboden und ist ein schlichter Kunstrasenplatz. Die Fertigstellung der geplanten Tribüne ist nach politischem Geplänkel rund um FCP-Präsident Antonio Caggiano unterbrochen, sodass die Anlage dem rasanten sportlichen Aufstieg der letzten Jahre hinterherhinkt. Seit der kleine Verein am Fusse des Monte San Salvatore 2017 sein 100-jährigen Bestehen gefeiert hat, durfte er über drei Aufstiege jubeln. Heute zählt er zum vorderen Mittelfeld der Promotion League, die er in seiner Debütsaison auf dem beachtlichen vierten Rang abschloss. Auch in der 1. Runde des Schweizer Cups wurde der FCP seiner Favoritenrolle gerecht, wenn auch der Sieg beim FC Schattdorf knapp ausfiel. Im Matchbericht liessen enttäuschte Schattdorfer verlauten: «Während die Trainer des FC Schattdorfs die Töggeli und Lätzli selbst auf dem Platz verteilten, bewerkstelligten dies auf Seiten des FC Paradiso nicht weniger als fünf (!) Assistenztrainer, während der Haupttrainer in reger Diskussionen mit seinem sechsten Assistenztrainer vertieft zuschaute.» Die sportlichen Ambitionen der Tessiner unterstreicht auch ein Blick in deren Kader, wo nebst dem ehemaligen FCSG-Akteur Mickaël Facchinetti mit Ezequiel Schelotto ein Routinier figuriert, der einst in der Premier League und in der Serie A im Einsatz stand.

Wenig überraschend bot der FC Paradiso den Ostschweizern vor 920 Zuschauern bei starken Böen mehr Paroli als noch der FC Malcantone in der ersten Cup-Runde, dessen Sportplatz auf der anderen Uferseite des Lago di Lugano zu finden ist. Bereits nach fünf Minuten ging der Aussenseiter in Führung, ehe die Gäste das Resultat zu einem 1:3 aus Sicht der Tessiner zurechtrückten. Durch das Weiterkommen im Pokal und in der Conference League dauert die Dreifachbelastung für den FCSG an. Um es mit einem – zugegeben pathetisch anmutenden – Ausschnitt aus Siddhartha zu sagen: «Nun beginnt sein Schicksal zu sprossen, und mit seinem das meine.»


Türkgücü München - FC Eintracht Bamberg

Die Münchner Stadionknappheit treibt nebst merkwürdigen auch schöne Blüten – zumindest in den Augen von Liebhabern historischer Sportstätten. Angespannter präsentierte sich die Lage aus Sicht des Viertligisten Türkgücü, der nach dem Rauswurf aus dem Grünwalder Stadion zur Sommerpause noch ohne neuerliche Heimat dastand.

Bereits in der Saison 2021/22 hatte der damalige Drittligist einige Partien im sonst nicht mehr bespielten Olympiastadion ausgetragen. Das Abenteuer während der Corona-Pandemie endete für Türkgücü aber vorzeitig und in der Insolvenz. Mittlerweile hält sich der Klub seit drei Spielzeiten in der Regionalliga Bayern, doch die Stadion-Odyssee dauert auch eine Stufe tiefer an. So haben die Verantwortlichen auf ihrer verzweifelten Irrfahrt gar ein Exil-Dasein im 150 Kilometer entfernt gelegenen Dörfchen Seligenporten nicht ausgeschlossen. Statt eines trostlosen Daseins in der Oberpfalz tritt der Klub zu seinen «Heimspielen» nun primär in Heimstetten an, während er immerhin vier Partien auf Münchner Boden im Städtischen Stadion an der Dantestrasse ausgetragen darf. Mehr Gastspiele auf der Anlage lässt deren dichter Belegungsplan mit den beiden Hauptmietern aus dem Bereich des American Football, den Munich Cowboys und den München Rangers, nicht zu.

Wie der Name des angrenzenden Freibads geht auch jener der Spielstätte auf den italienischen Dichter und Philosophen Dante Alighieri zurück. Wie beim vorab besuchten Campus des FC Bayern lässt sich auch beim einst über 30’000 Plätze bietenden Bau die NS-Vergangenheit aus architektonischer Sicht nicht vollends verbergen. So entstand der Durchbruch der Gegengerade zugunsten der Marschkolonnen der Hitlerjugend, die einst Veranstaltungen im Stadion abhielten. Für den türkischstämmigen Klub bedeuten die vier Heimspiele eine Rückkehr nach 18 Jahren, gastierte Türkgücü zuletzt 2006 unter dem Namen Türk SV 1975 München im Dantestadion. Dieses beeindruckt mit schöner Fassade, trapezförmiger Tribüne und von Bäumen gesäumten Stehtraversen. Seit 2022 gilt die Spielstätte deshalb zurecht als bayerisches Baudenkmal und erinnert mich ein wenig an das Beke teri Stadion im Süden Budapests.

Nach früher Führung ging Türkgücü ganz offenbar die «Gücü» (türkisch für Kraft) aus, sodass die Hausherren die Partie gegen Eintracht Bamberg noch aus der Hand gaben. Nach dem 1:2 gegen die Oberfranken steht der Klub nach sieben Runden ohne Sieg und mit lediglich zwei Punkten am Tabellenende. Die 524 Zuschauer nahmen die Pleite gelassen zur Kenntnis, war doch über die Hälfte von ihnen des Stadions wegen und ohne Bezug zum Heimteam angereist. Auch aus Bamberg hatte sich ein Dutzend Anhänger eher «lustlos» hinter einer Zaunfahne mit der Aufschrift «Raglos» eingefunden. So bleibt das rare Highlight der Gruppe die Ankündigung aus dem Oktober 2023, als sie für das Auswärtsspiel in Memmingen eine Anreise per Flieger mit zwei Zwischenstopps in Italien propagierte.


FC Bayern München - Karlsruher SC

3:40 Uhr: Abflug in Trabzon. 6:40 Uhr: Umstieg in Istanbul. 9:15 Uhr: Landung in München. 10:20 Uhr: Erster Schluck aus der Weissweinschorle im Klubheim auf dem FC Bayern Campus.

Das Nachwuchsleistungszentrum im Norden der Stadt umfasst acht Fussballfelder, die von sämtlichen Jugend- und Frauenteams des Rekordmeisters genutzt werden. Die Pläne für die Akademie, die sich die Bayern stattliche 70 Millionen Euro kosten liessen, stammen vom Architekturbüro «Albert Speer + Partner», das bis zu seinem Ableben vom Sohn des gleichnamigen Architekten und Reichsministers für Bewaffnung und Munition aus der Zeit des Nationalsozialismus geführt wurde. Herzstück der Anlage ist der «Platz 1», ein Stadion mit über 4000 Plätzen, das auch für Partien der Youth League genutzt wird. Die Profis aus dem Herrenbereich sind hingegen weiterhin an der Säbener Strasse im Süden Münchens beheimatet.

Mit fünf Siegen in ebenso vielen Partien ist die U19-Mannschaft der Bayern optimal in die Saison gestartet und führt ihre Division innerhalb der acht Gruppen an, in welche die DFB-Nachwuchsliga während der Vorrunde unterteilt ist. Auch die Gäste aus Karlsruhe stehen nach fünf Runden ohne Punktverlust und mit einer um 16 Treffern positiven Torbilanz in ihrer Gruppe an der Tabellenspitze. Trotz dieses sportlichen Höhenfluges war ich überrascht, dass einige Karlsruher in weissen T-Shirts mit der Aufschrift «Gegengerade» an diesem Samstagvormittag am Campus aufkreuzten und wenige Meter neben den «Red Munichs» anflaggten.

Neben dem Rasen fielen aber einzig die vielen Betreuer der Nachwuchshoffnungen auf, während die Akteure auf dem Platz mit filigraner Technik und hoher Präzision beeindruckten. Die Bayern drehten im Laufe der Partie einen 0:2-Rückstand, mussten drei Minuten vor Schluss aber den 3:3-Ausgleich verkraften. Die anschliessende Verlängerung endete vor 500 Zuschauern trotz Vorteilen für die Gastgeber torlos, sodass die Entscheidung vom Punkt aus herbeigeführt werden musste. Hier versagten drei Münchnern die Nerven, sodass das 5:6 aus Sicht der Hausherren das Weiterkommen des KSC und das exakt gleiche Resultat wie beim Auswärtsspiel des FC St. Gallen in Trabzon besiegelte.


Trabzonspor - FC St. Gallen

Der enge Terminplan in der Qualifikation zur Conference League bietet weder dem FC St. Gallen noch seinen Fans nach dem dramatischen Weiterkommen bei Slask Wroclaw eine Verschnaufpause! Doch auch wenn die Kurzfristigkeit der Reise Planungsgeschick und vielseitige Koordination erfordert, erachten es beide Parteien als Privileg, angesichts der Playoffs wieder nach Osten und zum türkischen Vertreter Trabzonspor reisen zu dürfen.

Der Klub aus dem Nordosten des Landes zählt mit sieben Titeln in der Liga und neun Pokalsiegen hinter dem bekannten Istanbuler Trio um Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray zu den erfolgreichsten des Landes und hat 2022 letztmals die Meisterschaft geholt. Geht es nach Trabzonspor selbst, wären sie gar achtfacher Champion, da Fenerbahce der Meistertitel der Saison 2010/11 trotz erwiesener Spielmanipulation nicht aberkannt wurde. Obschon dieser vermeintlichen Ungerechtigkeit weist der Trabzonspor Kulübü angesichts der noch jungen Klubgeschichte ein beeindruckendes Palmarès auf, entsprang der Klub doch erst 1967 einer Fusion lokaler Vereine. Bei der Farbwahl liessen sich die Türken von den weinrot-blauen Trikots von Aston Villa inspirieren und auch der trapezförmige Oberrang der Haupttribüne sowie die Backsteinmauern rund um die Spielerbänke erinnern an den Villa Park.

Im Gegensatz zur türkischen Riviera birgt die Schwarzmeerküste im Norden des Landes keine Sandstrände und die Uferhänge sind bergig und bewaldet. Touristen finden sich in der Gegend von Trabzon denn auch eher im Kloster Sumela im Zigana-Gebirge oder in den Einkaufspassagen der lebendigen Innenstadt als an den wenig sehenswerten Strandabschnitten. Während das Stadtzentrum (Ortahisar) zu Fuss zu erkunden ist, offenbart erst die Aussicht vom Hügel Boztepe, wie weitläufig die Grossstadtkommune mit über 800’000 Einwohnern ist. Vom Hafen aus verlassen Fähren die Stadt ins russische Sotchi und auch die georgische Grossstadt Batumi liegt nur eine dreistündige Autofahrt entfernt. Wie bereits im Frühling in Istanbul dominieren Cay (Rize-Tee) trinkende und Simits (Sesamringe) essende Menschen gemeinsam mit den unzähligen Katzen die Szenerie im Zentrum. Einzig die Warteschlangen vor den Geldautomaten scheinen angesichts der anhaltenden Inflation noch länger geworden zu sein.

Weit ausserhalb liegt hingegen das moderne Stadion mit seiner karoförmigen Fassade, während im Zentrum nur noch eine symbolische Tribüne in einer Parkanlage an die einstige Heimat von Trabzonspor erinnert. Das futuristische Design verdankt der nach Klublegende Senol Günes benannte Neubau einem Stuttgarter Architekten, der sich mit dem gleichen Entwurf bereits erfolglos für den Stadionneubau in Mainz beworben hatte.

Die 26’064 Zuschauer in der Arena sorgen für die gewohnt «türkische» Stimmung – mit einigen Dezibel weniger auf dem Schallpegel als die Istanbuler Grossklubs. Zwar ist es bisweilen ebenfalls sehr laut, doch die zügig vorgetragenen Lieder und Klatscheinlagen verebben ebenso schnell wie die Pfeifkonzerte bei gegnerischem Ballkontakt. Auch das mit den Smartphones erzeugte Lichtermeer fehlt nicht und wird in Trabzon jeweils in der 61. Minute durchgeführt – in Anlehnung an die osmanische Eroberung der Stadt im Jahr 1461. Seit den Sanktionen im Nachgang der Partie im März gegen Fenerbahce, als das Duell gegen den «Meisterdieb» in einem Platzsturm und wilden Jagdszenen endete, zeigt sich bei den sowieso bereits zerstreuten Fangruppen weiterer Aderlass.

Aus dem St. Galler Lager rechneten nach dem torlosen Hinspiel nur die grössten Optimisten mit einem Weiterkommen gegen einen Gastgeber, dessen Kader einen rund fünf Mal so hohen Marktwert aufweist, sofern man der Plattform Transfermarkt Glauben schenkt. Umso überraschter war die Mehrheit der 185 St. Galler Fans hinter dem Plexiglas im Oberrang, als ihr Team nach einer halben Stunde unerwartet in Führung lag. Zwar folgte kurz nach der Pause der Ausgleich, doch das 1:1 hatte trotz mehrerer heikler Situationen sowohl nach 90 Minuten als auch zum Ende der Verlängerung Bestand. So musste das Penaltyschiessen über das Weiterkommen entscheiden, bei dem die ersten acht Schützen ihre Aufgabe mehrheitlich souverän erledigten. Für Trabzon trat der einstige Champions-League-Finalist Stefan Savic als letzter Schütze an. Mit seinem satten Schuss liess er dem erneut starken FCSG-Goalie Lawrence Ati Zigi keine Abwehrchance, traf aber nur die Latte. Dies ebnete seinem St. Galler Namensvetter Ambrosius die Chance auf den grossen Coup. Dass der FCSG in den letzten Jahren auch im sportlichen Bereich einen grossen Schritt vorwärts gemacht hat, unterstrich der Verteidiger mit einem abgebrühten No-Look-Schuss ins grün-weisse Glück.

Aus Sicht der Türken bedeutete das 5:6 nach Penaltys das Ausscheiden, während der FC St. Gallen gleich bei seiner Premiere die Ligaphase der Conference League erreicht. Damit haben die Ostschweizer auf der mit zwölf Pflichtspielen längsten europäischen Reise der Klubgeschichte noch mindestens die Hälfte eines aufregenden Weges vor sich.