SP Tre Penne - SS Cosmos
Die Weltrangliste der FIFA zählt 210 Länder, ganz am Ende steht San Marino. Ein Besuch im Land der vermeintlich schlechtesten Fussballer der Welt scheiterte immer wieder. Dabei scheint es ein einfacher Länderpunkt zu sein: Wer aus der Schweiz anreist und einmal italienischen Boden betreten hat, dem steht San Marino ohne jede weitere Hürde offen – keine zusätzliche Grenzkontrolle, eine Hauptstadt mit Charme und auch das Meer in greifbarer Nähe.
Wer aus dem Norden kommt, trifft passend im Ort Dogana ein. Dort wird an diesem Samstag das erste der beiden Playoff-Viertelfinals der san-marinesischen Meisterschaft ausgetragen. Nachdem sich die 16 Teams in 30 Runden jeweils zweimal gegenüberstanden, spielt in der zweiten Phase die obere Tabellenhälfte den Meistertitel aus.
Die Partie im Stadio Ezio Conti geht ohne Beteiligung des Lokalvereins AC Juvenes/Dogana über die Bühne. Stattdessen treffen der Fünfte und der Sechste des Grunddurchgangs aufeinander. Als Heimteam geführt wird die schlechter klassierte SP Tre Penne, deren Name auf die drei Türme der höhergelegenen Stadt San Marino verweist. Den «Gast» verkörpert die SS Cosmos, deren Bezeichnung sich tatsächlich auf den einstigen New Yorker Verein gleichen Namens bezieht.
Tre Penne dürfte Fussballinteressierten ein Begriff sein. Der Verein ist regelmässig in den Qualifikationsrunden des Europapokals vertreten und hat in allen drei UEFA-Wettbewerben Erfahrung gesammelt. Eine Runde überstanden hat er jedoch nie. Auch deshalb, weil das Land mit «San Marino Calcio» eine Mannschaft in der italienischen Serie D unterhält, die dem nationalen Spielbetrieb früh die besten Talente entzieht. Auch seine Heimspiele trägt der Klub inzwischen nicht mehr im Nationalstadion von Serravalle aus, sondern im italienischen Cattolica.
Und dennoch: Das Hinspiel ist von überraschend ansehnlichem Niveau. Die neugebaute Tribüne ist mit 250 Zuschauern gut gefüllt. Tre Penne wird im Kampf um einen der drei internationalen Startplätze gar von einer kleinen Gruppe Fans unterstützt. Zu acht, ausgestattet mit fünf Böllern, drei Fahnen und einer Trommel, begleiten sie das unterhaltsame 1:1 auf dem Kunstrasen mit gelegentlichen Gesängen.
Real Maranello - GS Spezzanese
«Einmal im Leben Real Ma…ranello sehen.» Tatsächlich hat auch der kleine Ort in der Emilia-Romagna Weltruhm erlangt – allerdings nicht wegen seines achtklassigen Fussballklubs, sondern dank einer Automarke. Maranello ist als Sitz des Ferrari-Werks und der dazugehörigen Scuderia bekannt. Bei jedem Sieg des Rennstalls läuten die Kirchenglocken in der Gemeinde, die unweit von Modena und Bologna liegt, der Heimat von Maserati und Lamborghini.
Ferrari-Gründer Enzo Ferrari ist Ehrenbürger von Maranello – und sieht ein wenig aus wie Mesut Özil. Das Stadion des Ortes ist allerdings seinem Sohn Alfredo «Dino» Ferrari gewidmet, der mit nur 24 Jahren an Muskeldystrophie starb. Trotz seines Alters versprüht das Stadion mit dem grasbewachsenen Stehwall einen eigenen, leicht nostalgischen Charme. Die kleine Tribüne füllt sich an diesem lauen Frühsommerabend gemächlich – etwa 70 Zuschauer verlieren sich im Laufe der Partie dort.
Gespielt wird in der Seconda Categoria, der achthöchsten und damit zweittiefsten Liga im italienischen Fussballsystem. Es ist der letzte Spieltag, beide Mannschaften stehen im gesicherten Mittelfeld. Grosse Emotionen bleiben aus – obwohl mit Spezzano der Klub aus dem Nachbarort bei den Rot-Weissen gastiert. Auch die typische italienische Theatralik fehlt: Es geht beim 2:2 schlicht um nichts mehr. Am meisten Aufregung verursachen ein paar fluchende Jugendliche auf der Tribüne – und ein kurzzeitig entlaufener Chihuahua, dessen Besitzerin hektisch suchend umherläuft.
Mantova 1911 - Cesena FC
Mücken gibt es an diesem Abend keine. Stattdessen treiben Pappelflocken durch die wohlig warme Abendluft. In der Bar «Zanzare» herrscht heilloses Chaos – es scheint, als hätten sich sämtliche Einwohner Mantovas am Ufer des Lago Superiore versammelt, um den ersten lauen Sommerabend bei einem Glas Wein ausklingen zu lassen.
Der Lago Superiore ist einer von drei künstlichen Seen, die im 12. Jahrhundert rund um Mantova durch das Aufstauen des Flusses Mincio entstanden. Die Seen dienten ursprünglich dem Schutz der prunkvollen Stadt vor Angreifern – und Jahrhunderte später vor Plünderern. Im Zentrum dieser wehrhaften Schönheit steht die Familie Gonzaga, die Mantova im Mittelalter regierte. Ihr architektonisches Erbe prägt das Stadtbild bis heute und verleiht der Altstadt eine eindrucksvolle Eleganz. Seit 2008 zählt sie zum UNESCO-Weltkulturerbe – ein kleines Florenz der Po-Ebene, wenn auch mit rund 50’000 Einwohnern deutlich beschaulicher als das toskanische Original.
Zu den herausragenden Bauwerken zählt der Palazzo Te – ein Vorstadtpalast, den Markgraf Federico II. Gonzaga errichten liess. Er ergänzt den zentral gelegenen Palazzo Ducale und liegt auf der Isola del Teieto, kurz «Te». Nach diesem Ort ist auch die «Curva Te» benannt – die Heimat der Ultras Mantova. Diese feierten im März ihr 50-jähriges Bestehen und wurden von der Mannschaft zur Jubiläumssaison würdig beschenkt: Nach 14 Jahren gelang dem Verein der Wiederaufstieg in die Serie B. Es ist immer wieder faszinierend, wie sich eine beinahe verwaiste Fankurve in Italien mit dem sportlichen Erfolg wieder mit Leben füllt.
So auch heute: Das Stadion – benannt nach dem in der Nähe geborenen Fussballer Danilo Martelli, der 1949 beim Flugzeugunglück von Superga ums Leben kam – war mit 9’602 Zuschauern gut gefüllt. Darunter auch 940 mitgereiste Gästefans, die sich dank einer «trasferta libera» endlich wieder einmal frei bewegen durften. Grund für diese seltene Reisefreiheit: die langjährige Freundschaft zwischen den beiden Fanszenen, die seit 1993 besteht. Sie wurde an diesem heissen Nachmittag beiderseits mit Spruchbändern gewürdigt. Nur auf dem Platz gab es keine Geschenke: Die Gastgeber, im weiss-roten Trikot, das stark an jenes von River Plate erinnert, fertigten Cesena gleich mit 3:0 ab – und machten damit einen grossen Schritt in Richtung Klassenerhalt.
Casertana FC - Crotone FC
«Meritiamo rispetto» steht auf einem Banner, das über der Trennscheibe zur Gegentribüne hängt. Die Forderung der Casertana-Fans ist kurz und unmissverständlich. Die Mannschaft zollt ihnen in den folgenden 90 Minuten tatsächlich Respekt – mit einem für den bisherigen Saisonverlauf äusserst engagierten Auftritt. Auf den Rängen lassen sich die Anhänger davon anstecken und unterstützen ihre rot-blauen Falken – gemeinsam mit befreundeten Vertretern aus der Curva Nord Terni – ausdauernd und lautstark.
Vor dem Anpfiff sah die Lage noch weniger verheissungsvoll aus als die Aussicht von der Haupttribüne des Stadio Alberto Pinto, hinter der sich Hügel und Steinbrüche erheben, von der Abendsonne in warmes Licht getaucht. Als 17. der Tabelle gingen die Gastgeber gegen das drittplatzierte Crotone nicht nur mit der Aussenseiterrolle ins Spiel, sondern auch mit dem Druck, unbedingt gewinnen zu müssen, um der Relegation zur Serie D zu entgehen. Selbst dann wäre man jedoch auf Ausrutscher des direkten Konkurrenten aus Foggia in den verbleibenden zwei Runden angewiesen gewesen.
So gelang dem Team aus Caserta – nach einer bis dahin bescheidenen Saison – mit einem 2:0-Heimsieg vor 1’200 Zuschauern ein unerwarteter Erfolg. Mit zehn Punkten aus den abschliessenden fünf Partien sicherte sich Casertana später übrigens tatsächlich noch den direkten Klassenerhalt. Weniger grundlegend war das vorletzte Saisonspiel vor den Playoffs für Crotone, weshalb aus Kalabrien nur eine kleine Abordnung den weiten Weg von der Sohle des Stiefels antrat.
Abseits des Stadions lohnt sich in Caserta vor allem ein Abstecher zum «Reggia di Caserta» – einem der grössten Paläste Europas. Mit seinen 1’217 Zimmern und dem drei Kilometer langen Barockgarten zählt er zum UNESCO-Welterbe. Ansonsten sind die Sehenswürdigkeiten in der 70’000-Einwohner-Stadt nördlich von Neapel eher rar gesät, und der Ort passte schlicht gut in die Route der Durchreise. Nächstes Ziel war die unbekannte Region Molise, wo ein Spielbesuch jedoch leider ausfiel. Wenige Stunden vor Anpfiff des verheissungsvollen Duells gegen Perugia, während ich durch die steilen Gassen der Altstadt von Campobasso ging, kam die Nachricht: Spielabsage – der Papst war gestorben.
L'Aquila 1927 - Chieti FC
Wer durch die Gassen der Altstadt von L’Aquila schlendert, wähnt sich kaum in den Abruzzen. Mitten in den Bergen breiten sich weite, symmetrische Strassen aus, gesäumt von prunkvollen Arkaden, die in grosszügige Plätze münden. Noch weniger glaubt man, sich an einem Ort zu befinden, der vor etwas mehr als 15 Jahren nahezu in sich zusammenbrach.
Das Erdbeben vom 6. April 2009 war für mich der erste Berührungspunkt mit der 70’000-Einwohner-Gemeinde im höchstgelegenen Teil des Apennins. Fasziniert und ungläubig zugleich verfolgte ich damals die Fernsehbilder aus der abruzzesischen Hauptstadt – und war erschüttert, dass ein derart verheerendes Beben mit über 300 Todesopfern in unserem südlichen Nachbarland überhaupt möglich war. Auch heute stehen in der Altstadt zahlreiche Kräne und Baugerüste. Doch sie erzählen nicht mehr von Zerstörung, sondern zunehmend vom Aufbruch: Als italienische Kulturhauptstadt 2026 soll L’Aquila bis zum Jahreswechsel auf Hochglanz poliert werden.
Viele Jahre später öffnete sich mir durch den Fussball eine weitere Dimension der Verbindung zu L’Aquila. Genauer gesagt war es die lokale Fanszene unter der Führung der traditionsreichen «Red Blue Eagles 1978», die mich – damals noch in Videoclips aus dem speziellen Eckblock des alten Velodroms – in ihren Bann zog. Als Erfinder des Fangesangs «Un giorno all’improvviso» steht diese kleine, aber eindrucksvolle Kurve am Ursprung eines weltbekannten Fangesangs. Mit ihrer charakteristischen Aufstellung im Quadrat und ästhetischen Zaunfahnen haben sich die Red Blue Eagles zudem ein unverwechselbares visuelles Markenzeichen geschaffen.
Bemerkenswert ist auch ihre Eigenständigkeit: Abgesehen vom respektvollen Umgang mit Ultras von SPAL pflegt die Gruppe keine Kontakte – selbst die einstige Verbindung zu Chieti ist Geschichte. Umso eindrücklicher wirkt die landesweite Solidarität nach dem Erdbeben: Aus allen Teilen Italiens reisten Ultragruppen nach L’Aquila, um bei Bergungsarbeiten und Wiederaufbau zu helfen. Eine Statue mit Gedenktafel erinnert bis heute auf dem Areal «Ultras d’Italia» an diese aussergewöhnliche Geste der Zusammengehörigkeit unter italienischen Fanszenen.
Seit knapp einem Jahrzehnt trägt L’Aquila 1927 seine Heimspiele im Stadio Gran Sasso d’Italia aus – benannt nach dem höchsten Gipfel des Gebirges. Obwohl mit Chieti ein namhafter Gegner anreist und 300 Gästefans mitbringt, verlieren sich an diesem Tag nur 1300 Zuschauer im weiten Rund. Der schwache Andrang hat zwei Gründe: Zum einen erfolgt der Anpfiff an einem Donnerstag um 15 Uhr, zum anderen hat sich mit der US Sambenedettese bereits vorzeitig ein anderes Team den einzigen Aufstiegsplatz gesichert. Zwar spielen die vier Verfolger in der Serie D ebenfalls Playoffs aus, doch diese führen nur in Ausnahmefällen zum Aufstieg – wie hier beschrieben.
So kommt dem 2:0-Heimsieg sportlich keine grosse Bedeutung zu. Und dennoch: Auf Heimseite stehen rund 70 Leute unermüdlich hinter ihren Farben – Ultras mit Glatze und Sonnenbrille, Frauen mit Handtaschen und Väter mit ihren Kindern. Sie kommen ohne Zaunfahnen, Trommeln oder Megafon – gebremst durch Stadionverbote, nicht aber durch Überzeugung. Sie sind da. Und das zählt.
FC Pro Vercelli - Aurora Pro Patria
«Der Serienmeister aus dem Piemont steckt in einer schweren Krise.» Wer aufgrund dieser potenziellen Schlagzeile an Juventus denkt, dürfte zur Mehrheit gehören – und doch falsch liegen. Zwar läuft auch bei der Familie Agnelli nicht alles so rund wie die werkseigenen Automobile, doch gemeint ist mit dem strauchelnden Seriensieger der FC Pro Vercelli. Dieser gewann zwischen 1908 und 1922 sieben Mal den «Scudetto», sieht sich in der laufenden Spielzeit aber mit einem potenziellen Abstieg in die Serie D und dem Verkauf des Klubs an einen noch unbekannten aber «sehr seriösen und hochrangigen Partner» konfrontiert, wie der Klub kurz vor der Partie gegen den Lokalmatadoren verlauten liess.
Auch nebst den zahlreichen Titelgewinnen ist der Klub ein historisches Schwergewicht: 1892 als Società Ginnastica Pro Vercelli aus der Taufe gehoben, ist er nur deshalb nicht der älteste Fussballverein des Landes, weil jene Abteilung erst nach der Jahrhundertwende eingeführt wurde. Die letzte Saison in der höchsten italienischen Spielzeit liegt 90 Jahre zurück, 2018 spielten die «Bianche Casacche» (Weissjacken) zumindest noch in der Serie B.
Eine lange Tradition hat auch die Verbindung von Pro Vercelli und Palmeiras, einem brasilianischen Grossklub aus São Paulo. 1914 inspirierte ein Auftritt des Teams aus Vercelli in Brasilien die Einheimischen, selbst einen Fussballklub zu gründen. Durch die Freundschaft zwischen den Ultras der «Porcos de Londres» und jenen aus Vercelli besteht diese Verbindung bis heute nicht nur auf Vereinsebene. Deutlich näher gelegen ist die «Curva Vito Porro» aus Sesto San Giovanni, zu welcher der harte Kern der Anhängerschaft Pro Vercellis ebenfalls freundschaftliche Kontakte pflegt.
Wie ihr Klub macht auch die Fanszene harte Zeiten durch. Nach Ausschreitungen vor dem Derby gegen Novara im September 2024 belegte der Staat mehrere zentrale Personen der «West Side» mit langjährigen Stadionverboten, was die Reihen hinter der Zaunfahne in der Schriftart von Porsche ziemlich ausdünnte. Dass sich die «Mentalità Ultra» aber nicht an einer grossen Masse misst, zeigte die Curva Ovest mit einem Spruchband zu Ehren von Raffaele, einem verstorbenen Anhänger des heutigen Gegners und Rivalen. Ende Januar war dieser beim Gastspiel von Aurora Pro Patria in Novara in den Graben vor dem Gästeblock gestürzt und den schweren Verletzungen erlegen. Sein Konterfei prangte denn auch auf der einzigen Zaunfahne, mit welcher die kleine Schar an mitgereisten Fans aus Busto Arsizio den Gästeblock beflaggte.
Aus sportlicher Sicht entschädigte im vorgezogenen Playout-Duell der Serie C eine muntere zweite Halbzeit für den torlosen Auftakt. Die Gastgeber stemmten sich vor 978 Zuschauern im Stadio Silvio Piola, dem vermeintlichen Erfinder des Fallrückziehers, vehement gegen die Niederlage und kamen in der Nachspielzeit verdient zum 2:2. Dem wichtigen Ausgleich in der 94. Minute waren ein Handspiel und ein Elfmeter vorausgegangen.
FC Rot-Weiss Erfurt - FC Carl Zeiss Jena
Ein gefrorener Untergrund und die für eine Inbetriebnahme zu teure Rasenheizung führten dazu, dass auch das 110. Thüringenderby von Kontroversen begleitet wurde. Bereits das Hinspiel im letzten Herbst hatte nämlich mit einer ursprünglichen Ansetzung unter der Woche um 17 Uhr heftige Proteste ausgelöst. Und so witterten viele Fans auch bei der neuerlichen Absage im Februar Kalkül – besonders, da zum besagten Termin am Wochenende bei 13 Grad die Sonne schien. Doch wie bei vielen Ticketbesitzern fand auch bei mir der Nachholtermin eineinhalb Monate später erneut den Weg in den Kalender, und ich schlug zeitig im Zentrum Thüringens auf. Die 220’000 Einwohner beherbergende Landeshauptstadt hält mit der Krämerbrücke, dem Dom und der Severikirche sowie einer historischen Altstadt schliesslich eine Vielzahl an Sehenswürdigkeiten bereit.
Weniger rosig sind die Aussichten beim lokalen Viertligisten, der trotz einer ordentlichen Saison bereits die Kaderplanung für die kommende Spielzeit andenken kann. Während an der Spitze der Regionalliga Nordost mit komfortablem Vorsprung der FC Lokomotive Leipzig steht, ging es in diesem Verfolgerduell einzig um die Vorherrschaft im Bundesland. Das Steigerwaldstadion war mit 15’040 Zuschauern dennoch ausverkauft – auch dank einer Sondergenehmigung für die sonst geschlossene Westtribüne. Die markante Dachkonstruktion ebenjener Tribüne ist nur eines der Merkmale, die dem Stadion seinen Charakter verleihen. Da der Stadt das Geld für die Sanierung der letzten historischen Tribüne fehlt, bleibt das Achteck als solches ebenso bestehen wie die Flutlichter aus früheren Tagen. Die Elf aus Erfurt kam mit der grossen Kulisse besser zurecht und bedankte sich für die gelungene Choreografie der Steigerwaldkurve – die auf fünf realen Inszenierungen an regionalen Sehenswürdigkeiten basierte – mit einer fulminanten ersten Halbzeit und drei Treffern. Am Ende stand mit einem 3:1 ein hochverdienter Triumph gegen den Lokalmatadoren zu Buche – der erste seit über acht Jahren.
Die lange Durststrecke war dem Fanblock unter der Leitung der «Erfordia Ultras», über dessen Zaunfahne die Ultras aus Groningen anflaggten, allerdings nicht anzumerken. Zwar zeigte die Kurve besonders bei Klatscheinlagen eine hohe Mitmachquote und zum Start in den zweiten Durchgang auch eine sehenswerte Pyroshow – die ganz grossen Euphoriemomente blieben dem Auftritt jedoch verwehrt. Nichtsdestotrotz scheint in Erfurt eine gefestigte und standhafte Fanszene zu existieren, was auch der Umgang mit extremen politischen Strömungen unterstreicht: Das übriggebliebene Klientel der einstigen «Kategorie Erfurt» und des «Jungsturm», die Kontakte zur einschlägigen Gruppe «Animals» von ZSKA Sofia pflegen, musste mit einem Platz am Rand der Westtribüne Vorlieb nehmen.
Auch rund um das Grossprojekt «Rot-Weisse Republik», welches die Fanszene angesichts des Stadionumbaus und des gewachsenen Heimblocks lancierte, gilt es den Rot-Weissen Lob auszusprechen. Mit einer vielfältigen Kampagne – anfangs gar in Zusammenarbeit mit dem Verein – gelang es der Fanszene, Anhänger und Fanklubs aus umliegenden Dörfern und Städten mit verschiedenen Anlässen zu (re-)aktivieren, die eigenen Grenzen auszuweiten und den Klub sowie die Fankultur in ländlich geprägten Regionen Thüringens zu festigen. Auf die Reaktion der Gästefans – Anhänger des FC RWE hatten im Vorlauf des Derbys Transporter eines Paketzustellers aus der Umgebung von Jena mit Graffitis verziert – wusste die Heimseite ebenfalls prompt zu kontern.
Vor dem Stehplatzbereich des Gästeblocks hing an diesem Abend lediglich eine Zaunfahne mit der Aufschrift «Südkurve», die von einem kleinen Banner der Freunde des FSV Frankfurt überhangen wurde. Eigentlich schade, gehört die Jenaer Fanszene in meiner Wahrnehmung doch optisch zu den besten in Deutschland – auch wenn das Akronym hinter dem CHWDP-Banner etwas im Widerspruch zum selbstauferlegten Tenor der progressiven Kurve steht. Für optische Genugtuung sorgten die Gästefans stattdessen vor beiden Halbzeiten: Während sie zum Spielbeginn eine kreative Vorstellung des «Zirkus der Tricolore» ankündigten, der seine Pforten für die vermeintlich siegreichen Farben und seine Anhänger öffnete, präsentierte in der zweiten Halbzeit ein manischer Clown erbeutete Fanartikel aus Erfurt. Allgemein vermochten die rund 2’000 Fans aus Ostthüringen mit langandauernden Liedern, akustischen Spielereien und auf Trommelrhythmen abgestimmten Fahnenbewegungen zu überzeugen – auch wenn der ungünstige Spielverlauf der Kurve zuzusetzen schien.
FC Neukirch-Egnach II - FC Kreuzlingen II
Weil der Klubfotograf kurzfristig ins Tor musste, sprang ich als Ersatz ein. Zum 25-jährigen Jubiläum hatte sich der FC Neukirch-Egnach einiges einfallen lassen – Momente, die es wert waren, festgehalten zu werden. Neben dem Heimspiel zur Einstimmung ins Wochenende präsentierte die Vereinsführung das neue Logo, schnitt gemeinsam eine Jubiläumstorte an und hielt Festreden. Dazu gab es Grillgut und Getränke zu Sonderpreisen in geselliger Atmosphäre.
Auch das Duell der Zweitvertretungen unter Flutlicht bekam dank der Seekurve einen würdigen Rahmen verliehen: Die Nachwuchs-Fans zündeten Rauchtöpfe, Feuerwerk und Pyrotechnik, adaptierten Fahnen sowie Gesänge des St. Galler Espenblocks und feuerten ihr Team lautstark an – ein seltener Anblick in der 8. Schweizer Liga.
Gegenüber, vor dem modernen Klubhaus, versammelte sich die Mehrheit der 442 Zuschauer, darunter der Vorstand und zahlreiche Spieler anderer FCNE-Teams. In angeregten Gesprächen wurde deutlich, wie tief der FC Neukirch-Egnach im Dorf verwurzelt ist – ein Verein, der an der Basis denkt und von engagierten Mitgliedern lebt. So entwickelte sich mein kleiner Fotoauftrag trotz der knappen 1:2-Niederlage gegen die Gäste aus Kreuzlingen zu einem wundervollen Amateurfussballabend. Einziger Wermutstropfen: Durch die späte Anstosszeit kam die Aussicht vom Sportplatz Rietzelg auf den Bodensee nicht zur Geltung.
Ternana Calcio - AC Perugia
In der Schulzeit war ich Pragmatiker. Bei den Wahlpflichtfächern zog ich den Italienisch- dem Werkunterricht vor – schlicht, weil jener über den Mittag und nicht am späten Nachmittag stattfand. Und in einer Klasse voller Mädchen interessierte mich auch die Sprache nicht wirklich. Heute wünschte ich, ich hätte mich damals bei den Vokabeltests weniger auf die Hilfe meiner Banknachbarinnen verlassen. Was mir hingegen geblieben ist: Meine Lehrerin hatte Verwandte in einer Stadt namens Terni.
Mittlerweile zählt Italien aufgrund der Vielfalt seiner Kulinarik, seiner Landschaft und seiner Fanszenen zu meinen bevorzugten Reisezielen. Terni blieb für mich dennoch lange Zeit wenig greifbar. Sowohl die Stadt als auch Umbrien generell sind wenig touristisch erschlossen – nicht zuletzt, weil es die einzige italienische Region ohne Meeresküste oder direkte Grenze zu einem anderen Land ist. Die Gründe im Falle von Terni liegen auch im 2. Weltkrieg, zumal die 100‘000-Einwohner-Gemeinde mit ihren Stahlwerken für die Rüstungsindustrie relevant war und von den USA bombardiert wurde. Terni fehlt ein historisches Ambiente. Deshalb taucht die Stadt am Fluss Nera in Reiseführern meist nur aus geografischen Gründen auf – liegt doch das geografische Zentrum Italiens mit der Ponte Cardona unweit südwestlich.
Aus sportlicher Sicht spielt Terni ebenfalls eine Nebenrolle – trotz 100-jährigem Bestehen, das der lokale Fussballklub 2025 feiert. Ternana pendelt seit knapp zwei Jahrzehnten zwischen der Serie B und C. Auch in dieser Saison kämpfen die Umbrier in der dritten Liga um den Aufstieg – trotz eines Punkteabzugs wegen einer verspätet beglichenen Steuerschuld. Sie sind erster Verfolger von Virtus Entella. Ein Alleinstellungsmerkmal im italienischen Fussball stellt hingegen die Spielstätte dar: Sie verfügt über drei Ränge und hat die Form einer Ellipse. Der Bau ist damit weder stimmungsfördernd, noch schützt er vor Regen oder Wind und auch das Spielfeld liegt weit entfernt, originell ist er aber dennoch – besonders mit dem historischen Gästeblock in der «Curva San Martino», der aber seit vielen Jahren gesperrt ist. Auch die rot-grüne Farbgebung und der alliterative Name des «Stadio Libero Liberati», benannt nach einem tödlich verunglückten Motorradrennfahrer, fügen sich ins ungewöhnliche Gesamtbild.
Platz hätte die Spielstätte auch heute noch für deutlich mehr als 10’973 Zuschauer, aber ein fünfstelliger Wert ist in der Serie C ebenso selten wie respektabel. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass in den unteren italienischen Ligen kaum Saisonabonnenten existieren. In Terni beispielsweise besitzen nur knapp 2500 Personen eine Dauerkarte. Ein Umstand, der den Klub 2019 zu einer unkonventionellen Aktion bewog: Er lancierte Dauerkarten ab fünf Euro, bei der sogar ich für meine Sammlung eine gekauft hatte – doch weder die Kampagne noch der Postversand in die Schweiz hatten Erfolg. Auch in Terni existieren konkrete Pläne für einen Neubau, dass es in Italien bis zur Umsetzung aber noch ein weiter Weg sein dürfte, haben schon andere Fälle bewiesen. Nichtsdestotrotz kündigte Klubpräsident Stefano d’Alessandro die Partie gegen Perugia doppelt selbstsicher als «letztes Derby im Liberati» an.
Einen Dämpfer hatte das Aufeinandertreffen der beiden umbrischen Schwergewichte bereits im Februar verkraften müssen. Während in der Hinrunde in Perugia noch Auswärtsfans anwesend waren, blieb der Gästeblock in Terni verwaist. Grund dafür war eine Schlägerei auf der Autobahn zwischen Anhängern aus Perugia und Lucca, die für die Fans der «Grifoni» in einer viermonatigen Sperre bei Auswärtsspielen mündete. Trotz des fehlenden Gegners auf den Rängen setzten die Anhänger auf der Heimseite, die ihr Team seit 1990 aus zwei Kurven unterstützen, alles daran, der Partie einen würdigen Rahmen zu verleihen. Nebst einem Besuch im Abschlusstraining herrschte am Spieltag bereits in den Mittagsstunden reger Betrieb in den jeweiligen Lokalen und auch die typischen Bohnen mit Tomatensauce wurden serviert. Ternanas Fanszene geniesst im ganzen Land einen guten Ruf und hat seinen Ursprung Mitte der 1970er-Jahre in der Curva Est. Dieser entsprang auch die wohl bekannteste Gruppe, die «Freak Brothers», deren Name einer Reise nach Amsterdam entsprang, wo vier Terni-Fans auf die gleichnamige Comicserie stiessen. Nach 27 Jahren beschlossen sie 2007, nicht mehr unter eigenem Namen aufzutreten – aus Protest gegen die Anmeldepflicht von Materialien. Heute sind in der Curva Est die «Intaccati», die als einzige Gruppe im Unterrang anflaggen, sowie die «Brigata Gagarin» und die «Quelli della Est» federführend.
Dass die Fanszene dem linken Spektrum zu verordnen ist, zeigen neben der Kulturgeschichte der Stadt auch die politisch geprägten Fanfreundschaften. So sind an diesem Spieltag in der Curva Est Zaunfahnen von Atalanta (Forever), Sampdoria und Mainz (mit Dank nach Caserta) und St. Pauli sichtbar. Einen homogeneren Eindruck hinterlässt die Curva Nord, die unter diesem Namen seit 2012 besteht und eher jüngere Fans anzieht. Bei ihnen im Sektor hängt nebst dem «Teschio», dem Schädel der neugegründeten Ultras aus Bergamo, die Fahne der Ultras Inferno aus Lüttich und ein Exemplar der Ultras St. Pauli. Mit insgesamt fünf Zaunfahnen im Rund wirkt das Auftreten der Hamburger auf Aussenstehende etwas anmassend.
Beide Kurven zeigten einen soliden Auftritt, der sich mit fortlaufender Spieldauer allerdings dem Spielgeschehen anpasste. Dem Treiben auf dem Rasen fehlte wie bereits im ersten Duell mit dem Erzrivalen in dieser Saison das letzte Risiko. «Fere» verzeichnete zwar wesentlich mehr Spielanteile, blieb beim 0:0 aber ebenfalls ohne Torerfolg. Weil der Tabellenführer aus Entella parallel siegte, fühlte sich das Remis für die Rot-Grünen wie eine Niederlage an.
Bath City - Tonbridge Angels
Überall lagen sich Männer in Anzügen und Frauen mit extravaganten Hüten in den Armen, grölten, lachten und torkelten in Richtung Bahnsteig. Während sich die sichtlich betrunkenen Menschenmassen nach den York Races wieder auf den Weg in die Heimat machten, hatten wir den Nachmittag im altehrwürdigen Stadion von York City verbracht. Mein damaliger Begleiter, bis heute ein guter Freund, war vom Spektakel, das sich uns entlang der Gleise bot, ebenso fasziniert. Im jugendlichen Leichtsinn schworen wir uns, eines Tages genauso zu feiern – zumindest für einen Tag. Jahre später lösten wir dieses Versprechen nun ein und besuchten die Cheltenham Races, eines der bedeutendsten Pferderennen der Welt.
Neben dem Tag am Gold Cup – inklusive sattem Wettgewinn im Hauptrennen – stand auch ein Ausflug nach Bath auf dem Programm. Die historische Kurstadt in der Grafschaft Somerset gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe und zählt zu den am meisten besuchten Orten im Vereinigten Königreich. Diese Ehre verdankt die 100‘000-Einwohner-Gemeinde ihren Thermalquellen, den römischen Bädern und der georgianischen Architektur. Besonders eindrucksvoll lässt sich diese Bauart mit dem charakteristischen Kalkstein am Royal Crescent, dem Circus und der Pulteney Bridge begutachten.
Deutlich weniger bekannt ist in Bath der lokale Fussballklub, gilt der Ort am Fluss Avon neben seinem sehenswerten Kern doch als Hochburg des Rugby Union. Die Nebenrolle von Bath City spiegelt sich sowohl im bescheidenen sportlichen Abschneiden in der semiprofessionellen National League South als auch in der Lage des Twerton Park wider, der im gleichnamigen Quartier am südwestlichen Stadtrand liegt. In dieser Gegend dominieren Sozialwohnungen und ein Leben an der Armutsgrenze den Alltag. So hat sich der Verein, der den Fans gehört, zur zentralen Aufgabe gemacht, sich in der strukturschwachen Gegend zu engagieren und betreibt dafür eine eigene Stiftung.
Wer in die Jahre gekommenen Fussballstadien etwas abgewinnen kann, kommt hier ebenfalls voll auf seine Kosten: Schräge Stehstufen, ein rostiges Dachgebälk, vom Moos überzogene Tribünendächer und massive Wellenbrecher, an denen die Farbe abblättert, dominieren die Szenerie. Das Bier ist bezahlbar, Ordner oder Polizei braucht es nicht und alle Tribünen sind frei begehbar. So wechseln nach der Pause viele der 1073 Zuschauer auf die andere Spielfeldseite, um auch das zweite Tor beim 2:0-Heimsieg gegen die Tonbridge Angels aus der Nähe mitverfolgen zu können.
Die meisten Fans finden sich am unteren Ende der Gegentribüne ein, wo mehrere sehenswerte Zaunfahnen hängen – darunter auch ein Exemplar von Calcio Lecco. Am Ursprung dieser ungewöhnlichen Freundschaft steht der Final des «Anglo-Italian Cup», bei dem der heutige Sechstligist 1977 dem italienischen Serie-C-Team gegenüberstand und deutlich unterlag. Um den 40. Jahrestag des raren Pokalsiegs zu feiern, organisierten im Frühjahr 2017 einige Anhänger von Lecco unter dem Namen «Blucelesti 1977» eine Reihe von Veranstaltungen – unter anderem einen Besuch in Bath, für den sie auch die englischen Fans anschrieben. Der Abend endete in einem Pub unweit des Stadions – der Rest ist Geschichte.