FC Cortaillod - FC Le Parc
Denke ich an mein Fussballjahr 2024 zurück, bleibt mir besonders ein Tag Anfang August in Erinnerung: Eine Wanderung durch die Rebberge, charmante Dorfkerne, die Aussicht auf die französischen Alpen, Wein mit Freunden, gute Gespräche, ein kühles Bad im Genfersee – und schliesslich der wunderschön gelegene Fussballplatz in Cully. All das direkt nach der Rückkehr aus dem Norden Kasachstans, wo sich der FC St. Gallen für die nächste Runde im Europacup qualifiziert hatte – was das gesamte Erlebnis in der Westschweiz noch surrealer wirken liess.
Zwar verpasste der FCSG in der abgelaufenen Saison den erneuten Tanz auf europäischem Parkett, doch die übrigen Elemente liessen sich ein knappes Jahr darauf nahezu identisch wiederholen: wieder dieselbe Begleitung, erneut eine Wanderung durch die Rebberge, wieder lokaler Wein – und abermals diese grandiose Aussicht auf Fussballplatz und See.
Dieses Mal am Jurasüdfuss in Cortaillod, mit seiner feinen Altstadt auf dem Plateau. Unten am Hang, direkt am Ufer des Neuenburgersees, liegt das Spielfeld mit dem passenden Namen «La Rive». Mit seiner Lage erinnert es sofort an die Heimat des FC Vignoble – und die Aussicht aus den Rebbergen zählt unbestritten zu den schönsten, die Fussballfans in der Schweiz zu sehen bekommen. Auf seinem Rasen trat der FC Cortaillod ein letztes Mal in dieser Saison zum Heimspiel an. Das 0:2 gegen den FC Le Parc vor rund 80 Zuschauern änderte nichts am Platz der Gastgeber im gesicherten Mittelfeld der sechsten Spielklasse.
SG Motor Gohlis-Nord - SG Taucha 99 II
Die «Sportgemeinschaft Motor Gohlis-Nord Leipzig eingetragener Verein» wird im Volksmund schlicht «MoGoNo» genannt. Mit über 2’500 Mitgliedern zählt sie zu den grössten Klubs der Stadt und unterhält zwölf Abteilungen – im Bogenschiessen und in der Leichtathletik gehört der Verein aus dem Leipziger Norden gar national zu den besten. Seinen Namen verdankt MoGoNo der Bildung von Betriebssportgemeinschaften zur Zeit der DDR. Da in Leipzig-Gohlis der Trägerbetrieb zur Maschinenbaubranche gehörte, wurde die BSG der Sportvereinigung «Motor» zugeordnet.
Doch weder der Name, noch das Wetter oder die sportliche Ausgangslage locken die Mehrheit der 30 Zuschauer an diesem Sonntagnachmittag an den Spielfeldrand. Bei Dauerregen und bescheidenen Ballkünsten der Vertreter aus der neuntklassigen Kreisoberliga Leipzig ist es der Spielort selbst, der beim 0:1 gegen die Zweitvertretung der Sportgemeinschaft aus Taucha – einem Vorort im Nordwesten der sächsischen Grossstadt – im Zentrum steht.
Schliesslich ist das Stadion des Friedens über 100 Jahre alt und wies in den 1950er-Jahren einst ein Fassungsvermögen von rund 50’000 Zuschauern auf. Heute ist es auf etwas über 20’000 Plätze reglementiert – was die Spielstätte immer noch auf Rang 46 der grössten Fussballstadien Deutschlands führt. Der Zuschauerrekord mit 30’000 Fans datiert aus den hitzigen Stadtderbys zwischen dem FC Lokomotive Leipzig und der BSG Chemie Leipzig in der Oberligasaison 1983/84. Der Grund dafür war ebenso banal wie typisch: Der Rasen des Zentralstadions war nach dem 7. Turn- und Sportfest der DDR derart ramponiert, dass die beiden Klubs eine Ausweichspielstätte suchen mussten.
FC Lokomotive Leipzig - FC Erzgebirge Aue
Der Sachsenpokal weist für den FC Lokomotive Leipzig besonders in dieser Saison nicht annähernd die Gewichtigkeit der Liga auf. Dennoch steht «die Loksche» im Final des Verbandspokals, wo im heimischen Bruno-Plache-Stadion der Drittligist aus Aue als Gegner wartet. Der Rasen liegt im weitläufigen Rund weit entfernt und die Flutlichter im Innenraum versperren einem die Sicht. Die Spielstätte jedoch versprüht ihren eigenen Charme. Die 1932 errichtete Holztribüne ist noch immer erhalten und Lok verzeichnet mit 12’154 Zuschauern, darunter 2’000 Gäste aus dem Erzgebirge, eine der höchsten Zuschauerzahlen im 21. Jahrhundert – auch dank einer Zusatztribüne.
Während die Spielstätte eine Konstante bildet, ist der Klub in seiner Geschichte vielen Änderungen unterworfen. Der erste Verein wurde 1893 als VfB Leipzig gegründet und feierte als Deutscher Meister 1903, 1906 und 1913 früh grosse Erfolge. Im Zuge der Restrukturierung des ostdeutschen Fussballs wurden in den 1960er-Jahren mehrere Vereine zusammengelegt und schliesslich der FC Lokomotive Leipzig gegründet, der sich als Nachfolgeverein des VfB verstand. In der Zeit der DDR gehörte Lok als Betriebssportgemeinschaft der Deutschen Reichsbahn zu den erfolgreichsten Vereinen des Landes und konnte insgesamt 77 Spiele auf internationaler Bühne vorweisen – 1987 stand Lok gar im Final des Europapokals der Pokalsieger.
Nach der Wende fiel diese Verbindung weg. Lok nannte sich wieder VfB Leipzig, um an die frühere Zeit anzuknüpfen und unter dem traditionsreichen Namen den Klub zu etablieren. Ein Vorhaben, das scheiterte und nach zwei Insolvenzverfahren schliesslich 2004 sein Ende fand. Die Auflösung hatte sich abgezeichnet, weshalb einige Fans bereits im Vorjahr den FC Lokomotive Leipzig neugründeten und in der untersten Spielklasse wiederbegannen – ein ähnlicher Weg, den auch Stadtrivale Chemie einst beschritt. Rasche Aufstiege und der Zusammenschluss mit einem höher spielenden Verein ermöglichten den Sachsen den schnellen Weg zurück bis in die Regionalliga Nordost. Dort sicherte sich Lok in der Saison 2024/25 souverän den Meistertitel, ist aber aufgrund einer weiter ausbleibenden Regionalliga-Reform noch nicht sicher aufgestiegen. In der Relegation gegen den TSV Havelse spielen die beiden Meister ihrer Staffeln den letzten Aufsteiger in die 3. Liga aus.
Für das erste Endspiel, quasi die Generalprobe im Pokal, war der Rahmen bereits würdig. Schönstes Wetter, der Paragraph 31 des sächsischen Polizeigesetzes wird im Innenraum von einem nervösen Beamten gleich zwei Mal vorgelesen, Helikopter kreisen über dem Stadion, Choreografien auf beiden Seiten, dazu die alte Anzeigetafel sowie die Stehtraversen und die Leute auf den Gittern – ein Hauch vergangener Zeiten weht durch den Stadtteil Probstheida.
Dass im Südosten von Leipzig aber auch andere Zeiten angebrochen sind, unterstreichen Teile der Fanszene. Eine Freundschaft zum italienischen Fanverein Ideale Bari Calcio, reflektierte Aussagen auf der Webseite und im stets schön gestalteten «Leiden des jungen Bahnwärters» zeigen, dass der Ruf der Lokisten nicht mehr der Wirklichkeit entspricht – trotz Gegenwind in den eigenen Reihen (Banda Resoluta) und einem breiten Restpublikum, das mit blau-gelber Ultrà-Kultur wenig anfangen kann. Auch die Bildsprache – Fotografengrüsse an Fräulein Katzenhaar – sowie der dunkle Gelbton und die spezielle Schriftart der Ultras-Zaunfahne verdienen ästhetische Bestnoten. Schade, dass sich dieselbe Gruppe mit einem Spruchband im Verlauf des Spiels selbst diskreditierte, als sie in plumper Weise das abgebrannte Affenhaus im Krefelder Zoo, bei dem an Silvester 2019 fünfzig Tiere ihr Leben verloren hatten, mit einem jüngst durch Wismut-Fans verursachten Brand auf dem Stadiondach in Aue verglich.
Die Partie gegen die Schachter entpuppte sich als der erwartete Härtetest vor den beiden undankbaren Aufstiegsspielen nach einer Ausnahmesaison. Die Leipziger bestanden ihn – nach torlosen 90 Minuten und einer chancenarmen Verlängerung. In der Entscheidung im Elfmeterschiessen gewannen sie knapp mit 6:5. Darauf folgte kollektiver Freudentaumel und ein Platzsturm – es sollte der einzige der Saison bleiben.
Borussia Neunkirchen - Borussia Mönchengladbach
Überall blättert die Farbe ab und die Schriftzüge auf den Werbebanden sind kaum noch lesbar. Rost zieht sich durch die Wellenbrecher, die Fenster im Vereinsgebäude neben der Haupttribüne sind kaputt, alte Eingänge überwuchert. An anderen Orten wäre ein Stadion wie dieses längst abgerissen worden – doch das Ellenfeldstadion in Neunkirchen bröckelt weiter vor sich hin. Geld für Renovierungen gibt es in der 50’000-Einwohner-Stadt im Saarland, deren Geschichte von der Schwerindustrie geprägt ist, nämlich keines – zum Glück für Stadionliebhaber.
Der finanzielle Aspekt ist auch die Grundlage für dieses Benefizspiel. Borussia Neunkirchen kämpft schon länger mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten. So kam Borussia Mönchengladbach in seinem 125. Jubiläumsjahr auf die Idee, noch einmal an die Stätte ihres ersten Bundesliga-Spiels zurückzukehren. Damals, vor exakt 60 Jahren, spielten die «Fohlen» im Ellenfeldstadion unentschieden. Auch der Borussia Neunkirchen steht ein Jubiläum bevor: Sie wird diesen Sommer 120 Jahre alt. Der Klub blickt zurück auf eine turbulente Geschichte mit wenigen Erfolgen – einzig 1959 standen die Saarländer im DFB-Pokalfinal. Nebst klammer Kasse macht die Borussia auch sportlich seit längerem schwere Zeiten durch: Der Klub beendete die Saison auf dem vierten Platz in der sechstklassigen Saarlandliga, im Landespokal stiess das Team immerhin bis in den Halbfinal vor.
Zum Auftakt des Wochenendes finden sich an diesem Freitagabend 5’000 Zuschauer nahe der französischen Grenze ein. Die Terminwahl erweist sich für die Gastgeber als etwas unglücklich, da einige Anhänger gleichzeitig bei den befreundeten Fans in Saarbrücken weilen, die parallel ihr Relegationsspiel austragen. Doch auch so gibt die nicht mehr komplett zugängliche Spieser Kurve – die eigentlich eine Gerade ist – ein eindrückliches Bild ab. Vor allem, wenn man hört, dass beim Ausbau 1964 ursprünglich geplant war, auch die Gegengerade auf die Höhe der Spieser Kurve zu bringen.
Bis zur 70. Minute hält Neunkirchen wacker einen Zwei-Tore-Rückstand und verzeichnet selbst Chancen auf einen Treffer. Am Ende steht ein 0:5 gegen den Erstligisten, der mit mehreren gestandenen Bundesliga-Akteuren antritt. Doch der Gastgeber stellt den gelungenen Abend unter das richtige Motto und resümiert passend: «Erlebnis statt Ergebnis.»
FSV Zwickau - BSG Chemie Leipzig
Wenn der Nachwuchs spätabends vor dem Wochenende das 60-seitige Spieltagsheft zusammenschustert und dabei sogar den italienischen Plural von «capo» korrekt setzt, hat eine Fanszene definitiv gute Jugendarbeit geleistet. Verwunderlich ist das in Zwickau nicht, zählt der Kern der rot-weissen Anhängerschaft in meinen Augen doch zu den kreativsten in ganz Deutschland. Das beginnt bei der Schriftart der Zaunfahne, bei der sich 1997 ein paar Zwickauer Jugendliche von fanatischen Fans in Griechenland inspirieren liessen, und reicht bis zum Gruppenlogo Peter Pixel.
Während die Münchner Justiz im ersten Fall einst ihre fehlende Verhältnismässigkeit eindrücklich unterstrich, erinnerte mich Pixel immer an Karlsson vom Dach – auch wenn dieser seinen Propeller auf dem Rücken trug. Doch gerade dieser stilistische Bruch, sich in einer muskelstrotzenden Subkultur über ein charmant-kindliches Logo zu etablieren, zeugt von einer wohltuenden Eigenständigkeit – und wäre in Polen einem Grafiker für Mottoshirts im Fussballumfeld wohl ziemlich schnell zum Verhängnis geworden. Vielleicht war es auch genau dieser Umstand, der Zwickau mit dem «Bösen Ball» der Ultras Dynamo verband – einer Gruppenfreundschaft, die längst auf die beiden Klubs und die breite Fanbasis übergeschwappt ist. Ausdruck davon ist auch das Strassenbild in der Zwickauer Altstadt, wo mittlerweile mehr schwarz-gelbe als rot-weisse Sticker an den Laternen kleben.
Neben der Freundschaft nach Dresden unterhält Red Kaos auch langjährige Kontakte zu den Red Blue Devils aus dem ungarischen Szekesfehervar sowie zur Südkurve von Juve Stabia. In diesem Zusammenhang sei auch die musikalische Ader der Stadt im Südwesten Sachsens erwähnt, die Heimat Robert Schumanns. Zwar in völlig anderen musikalischen Gefilden zuhause, hätte sich der Komponist wohl dennoch nicht geschämt für Gesänge wie «Florenz aus dem Europapokal geschmissen», den «Doppelpass», die «Verflogenen Erfolge» oder für das hymnische «Dass wir Zwickauer sind». Letzteres wiederum inspirierte die Freunde aus Castellammare di Stabia zur Adaption «Siamo pazzi di te» – und glich damit zumindest symbolisch das wohl uneinholbare Ungleichgewicht übernommener Melodien zwischen Italien und dem deutschsprachigen Raum etwas aus. Selbst der einstigen Heimat widmete die Fanszene mit dem Stadionturmlied aussagekräftige Zeilen mit Ohrwurmcharakter.
Über das neue Stadion auf der Eckersbacher Höhe zieht zwar der Wind durch noch unbebaute Ecken, doch für Ultras, die zuvor zwei Jahrzehnte auf Stahlrohrtribünen im Westsachsenstadion und später im Sportforum Sojus gestanden hatten, ist das durchaus in Ordnung. Trotz moderner Anmutung vermittelt das Stadion einen praktischen Eindruck. Mit der jüngsten Kampagne «Fussball gehört den Fans», ins Leben gerufen, um eine Finanzlücke von einer halben Million Euro zu schliessen und die Löschung aus dem Vereinsregister zu verhindern, zeigte die Fanszene erneut ihre Schlagkraft. Statt eines Investoreneinstiegs entschied sie sich für ein Crowdfunding – eine selbstorganisierte Rettungsaktion anstelle eines ungewissen Ausverkaufs. Grund für die finanzielle Schieflage war der Abstieg 2023 aus der 3. Liga, in welcher die Schwäne seit der Saison 2016/17 gespielt hatten.
So blieb der 90’000-Einwohner-Stadt auch in der Regionalliga Nordost jener Klub erhalten, dessen Wurzeln im Planitzer SC liegen. Als Wiege der deutschen Autoindustrie war es später die BSG Horch/Motor Zwickau, die 1949/50 den Meistertitel der allerersten DDR-Oberliga-Saison gewann. Während der DDR-Zeit war der VEB Sachsenring Zwickau – Hersteller des Trabants – sogenannter Trägerbetrieb. Es folgten weitere Erfolge, etwa das Erreichen des Halbfinals im Europapokal der Pokalsieger 1976. In den 1990er-Jahren agierte der FSV Zwickau sogar zweitklassig, erlebte aber auch einen Abstieg bis in die Landesliga Sachsen. Durch die Geschichte führt auch ein von Fans während der Pandemie initiierter digitaler Sonderzug.
Auf den einzigen, jedoch umstrittenen DDR-Meistertitel spielten auch die Chemiker mit einem Spruchband an – und füllten mit 1’750 grün-weissen Anhängern die gesamte Hintertortribüne. Bei 9’651 Zuschauern trafen in einem praktisch ausverkauften Stadion zwei reife Fanszenen aufeinander – Blickfang Ultra gegen Erlebnis Fussball und damit auch zwei unterschiedliche Stile. Während bei den Gästen die Trommel den Klatschrhythmus – jeder Schlag Teil einer einfachen Melodie – unterstützte, agierte man auf Heimseite mit den Schlägern virtuos und melodisch. Das nicht minder originelle Liedgut unterstrichen die Chemiker durch Schnipseleinlagen, während der Sektor E5 gegenüber immer wieder neue Fahnen in den Tifo einband, darunter auch die bekannte in kyrillischer Schrift. Das Spiel endete 1:1, der vermeintliche Klassenerhalt für Chemie – doch die Hauptrolle spielten an diesem Tag die beiden Fankurven.
Carrarese Calcio - Modena FC
Im Flugblatt der Curva Nord, das sich sinngemäss mit «Stures Dagegensein» übersetzen lässt, äussern die Ultras aus Carrara nicht nur Unmut über die trägen Diskussionen rund um ein neues Stadion, sondern rücken den Fokus auch auf ein ernstes Thema: Wenige Tage vor dem 1. Mai verunglückte der Steinbrucharbeiter Paolo Lambruschi tödlich. Nebst einigen persönlichen Worten bleibt im Text besonders der Satz «Man muss von der Arbeit leben, nicht sterben» im Gedächtnis.
Im Stadion wird ihm – unmittelbar nach Anpfiff und von den Fans initiiert – mit einer Schweigeminute und einem Transparent mit klarer Forderung gedacht: Stoppt den Tod am Arbeitsplatz! Worte, die nicht zufällig fallen, sondern tief in der Geschichte Carraras verwurzelt sind. Die Stadt, eingebettet in die Apuanischen Alpen, ist seit jeher mit harter, bisweilen lebensgefährlicher Arbeit verbunden. Die Steinbrüche hoch über der Stadt, in denen der berühmte Carrara-Marmor gewonnen wird, haben Generationen geprägt – und viele Leben gekostet. Noch heute sind hier rund 30 Abbaustätten in Betrieb, die über dem Talbecken von Fantiscritti in der Sonne wie Schneefelder leuchten.
Dass dieser Alltag nicht nur industrielle, sondern auch kulturelle Spuren hinterlässt, manifestiert sich im Stadtbild: Trottoirs, Sitzbänke oder Pflanzentöpfe – alles aus Marmor. Wer Michelangelos David-Statue aus Florenz kennt, staunt, wie selbstverständlich mit dem edlen Werkstoff umgegangen wird. Sogar das Stadt- und Vereinswappen, ein stilisiertes Rad, erinnert an die alten «carri», die Karren, mit denen die schweren Blöcke einst zur Verarbeitung hinab ins Tal gebracht wurden.
Auch im Gästeblock herrscht zunächst Schweigen. Der Grund für den Protest des Gruppen-Dreiergespanns «Quei Bravi Ragazzi», «Vecchie Brigate» und «Dag dal Gas» – die seit der Auflösung von «Avia Pervia» den Kern von Modenas Fanszene bilden – liegt aber in den zuletzt schwachen Leistungen des Teams sowie in der jüngsten Derby-Niederlage gegen Reggiana. Die Anhänger aus Reggio Emilia waren einst Verbündete Carraras, doch seit deren Akzeptanz der Tessera haben die Carrara-Fans diese Verbindung gekappt. Das Verhältnis zu Modena ist damit historisch belastet – aber dennoch von gegenseitigem Respekt geprägt.
Exakt gegenüber der Gästefans liegt der Stimmungskern Carraras, wo hinter den wenigen Sitzreihen überraschenderweise auch ein Baum auf dem Stadionareal steht. Die Curva Nord trägt den Namen von Lauro Perini, der 1979 die historische Gruppe «Commando Ultrà Indian Trips» ins Leben rief. Erst seit wenigen Jahren und dem erhöhten Zuschaueraufkommen sind die Ultras tatsächlich wieder in der Nordkurve beheimatet. Zuvor standen auch sie auf der Gegengerade, wo weitere kleinere Gruppen bestehen, die jedoch kaum in Erscheinung treten. Die Fanszene ist links geprägt und unterhält mit Sturm Graz ein herzliches Verhältnis, dessen Anhänger wiederum mit Carraras ehemaliger Freundschaft Pisa verbunden sind. Die stärkste Abneigung hegen die Carrarese-Fans gegenüber Spezia, die auch an diesem Nachmittag immer wieder besungen wird.
Sportlich erlebt der Verein derzeit ein Hoch: Nach 76 Jahren gelang dem Klub auf diese Saison hin der Aufstieg in die Serie B. Mit einem sehenswerten Kopfballtreffer in der 86. Minute zum 2:1 sicherten sich die Toskaner vor 4’194 Zuschauern wohl vorzeitig den Klassenerhalt. Eine beeindruckende Willensleistung, trotz Unterzahl nach wenigen Minuten aufgrund einer Notbremse des Goalies.
SS Folgore - SS San Giovanni
San Marino überrascht mich gleich mehrfach. Die kleine Enklave mitten in Italien gehört – gemessen am nominalen BIP pro Kopf – zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Sie kommt ohne Staatsschulden aus und weist eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten weltweit auf. Gerade einmal knapp 30’000 Menschen leben hier – rund eine halbe Stunde landeinwärts von Rimini, wohin sich scheinbar auch viele Radfahrer gern auf den Weg machen.
Doch San Marino ist mehr als nur eine wirtschaftliche Kuriosität: Der fünftkleinste Staat der Welt gilt als eine der ältesten Republiken überhaupt und glänzt mit einer Fülle historischer Bauten. Besonders markant: die auf dem Monte Titano thronende Hauptstadt «Città di San Marino». Ihre von Mauern umgebene Altstadt und die drei markanten Wehrtürme auf den benachbarten Gipfeln – verbunden durch einen schmalen Panoramaweg – verleihen dem Ort seinen besonderen Charme. Nicht umsonst zählt das Stadtzentrum zum UNESCO-Weltkulturerbe. Viele Besucher gelangen bequem per Seilbahn auf den Berg hinauf, um von dort durch die engen Gassen zu schlendern.
Einige hundert Höhenmeter weiter unten in südlicher Richtung geht es weniger beschaulich zu: Auf dem Campo Sportivo Fonte dell’Ovo steht an diesem Samstag das zweite Playoff-Duell der heimischen Meisterschaft an. Der Viertplatzierte aus dem Norden trifft auf den siebtplatzierten Klub aus «San Giovanni sotto le Penne», einer Ortschaft unterhalb des Felsens. Die SS Folgore aus Falciano hat im nationalen Fussball bereits Spuren hinterlassen. Im Jahr 2000 holte der Klub den Meistertitel und wurde damit zum ersten Team aus San Marino, das sich für einen UEFA-Wettbewerb qualifizieren konnte – nachdem der nationale Verband in jenem Jahr erstmals offiziell zugelassen worden war. Die internationale Premiere endete allerdings deutlich: In der Qualifikation unterlag Folgore dem FC Basel mit einem Gesamtskore von 1:12.
Die heutige Partie verläuft weniger einseitig, aber aus Sicht von Folgore (Blitz) kaum erfreulicher. Das 0:1 im Hinspiel vor 170 Zuschauern bedeutet einen Rückschlag – und für die SS San Giovanni eine grosse Chance, endlich eine klaffende Lücke zu schliessen: Als einziger Klub des Landes hat er noch nie einen Titel gewonnen.
SP Tre Penne - SS Cosmos
Die Weltrangliste der FIFA zählt 210 Länder, ganz am Ende steht San Marino. Ein Besuch im Land der vermeintlich schlechtesten Fussballer der Welt scheiterte immer wieder. Dabei scheint es ein einfacher Länderpunkt zu sein: Wer aus der Schweiz anreist und einmal italienischen Boden betreten hat, dem steht San Marino ohne jede weitere Hürde offen – keine zusätzliche Grenzkontrolle, eine Hauptstadt mit Charme und auch das Meer in greifbarer Nähe.
Wer aus dem Norden kommt, trifft passend im Ort Dogana ein. Dort wird an diesem Samstag das erste der beiden Playoff-Viertelfinals der san-marinesischen Meisterschaft ausgetragen. Nachdem sich die 16 Teams in 30 Runden jeweils zweimal gegenüberstanden, spielt in der zweiten Phase die obere Tabellenhälfte den Meistertitel aus.
Die Partie im Stadio Ezio Conti geht ohne Beteiligung des Lokalvereins AC Juvenes/Dogana über die Bühne. Stattdessen treffen der Fünfte und der Sechste des Grunddurchgangs aufeinander. Als Heimteam geführt wird die schlechter klassierte SP Tre Penne, deren Name auf die drei Türme der höhergelegenen Stadt San Marino verweist. Den «Gast» verkörpert die SS Cosmos, deren Bezeichnung sich tatsächlich auf den einstigen New Yorker Verein gleichen Namens bezieht.
Tre Penne dürfte Fussballinteressierten ein Begriff sein. Der Verein ist regelmässig in den Qualifikationsrunden des Europapokals vertreten und hat in allen drei UEFA-Wettbewerben Erfahrung gesammelt. Eine Runde überstanden hat er jedoch nie. Auch deshalb, weil das Land mit «San Marino Calcio» eine Mannschaft in der italienischen Serie D unterhält, die dem nationalen Spielbetrieb früh die besten Talente entzieht. Auch seine Heimspiele trägt der Klub inzwischen nicht mehr im Nationalstadion von Serravalle aus, sondern im italienischen Cattolica.
Und dennoch: Das Hinspiel ist von überraschend ansehnlichem Niveau. Die neugebaute Tribüne ist mit 250 Zuschauern gut gefüllt. Tre Penne wird im Kampf um einen der drei internationalen Startplätze gar von einer kleinen Gruppe Fans unterstützt. Zu acht, ausgestattet mit fünf Böllern, drei Fahnen und einer Trommel, begleiten sie das unterhaltsame 1:1 auf dem Kunstrasen mit gelegentlichen Gesängen.
Real Maranello - GS Spezzanese
«Einmal im Leben Real Ma…ranello sehen.» Tatsächlich hat auch der kleine Ort in der Emilia-Romagna Weltruhm erlangt – allerdings nicht wegen seines achtklassigen Fussballklubs, sondern dank einer Automarke. Maranello ist als Sitz des Ferrari-Werks und der dazugehörigen Scuderia bekannt. Bei jedem Sieg des Rennstalls läuten die Kirchenglocken in der Gemeinde, die unweit von Modena und Bologna liegt, der Heimat von Maserati und Lamborghini.
Ferrari-Gründer Enzo Ferrari ist Ehrenbürger von Maranello – und sieht ein wenig aus wie Mesut Özil. Das Stadion des Ortes ist allerdings seinem Sohn Alfredo «Dino» Ferrari gewidmet, der mit nur 24 Jahren an Muskeldystrophie starb. Trotz seines Alters versprüht das Stadion mit dem grasbewachsenen Stehwall einen eigenen, leicht nostalgischen Charme. Die kleine Tribüne füllt sich an diesem lauen Frühsommerabend gemächlich – etwa 70 Zuschauer verlieren sich im Laufe der Partie dort.
Gespielt wird in der Seconda Categoria, der achthöchsten und damit zweittiefsten Liga im italienischen Fussballsystem. Es ist der letzte Spieltag, beide Mannschaften stehen im gesicherten Mittelfeld. Grosse Emotionen bleiben aus – obwohl mit Spezzano der Klub aus dem Nachbarort bei den Rot-Weissen gastiert. Auch die typische italienische Theatralik fehlt: Es geht beim 2:2 schlicht um nichts mehr. Am meisten Aufregung verursachen ein paar fluchende Jugendliche auf der Tribüne – und ein kurzzeitig entlaufener Chihuahua, dessen Besitzerin hektisch suchend umherläuft.
Mantova 1911 - Cesena FC
Mücken gibt es an diesem Abend keine. Stattdessen treiben Pappelflocken durch die wohlig warme Abendluft. In der Bar «Zanzare» herrscht heilloses Chaos – es scheint, als hätten sich sämtliche Einwohner Mantovas am Ufer des Lago Superiore versammelt, um den ersten lauen Sommerabend bei einem Glas Wein ausklingen zu lassen.
Der Lago Superiore ist einer von drei künstlichen Seen, die im 12. Jahrhundert rund um Mantova durch das Aufstauen des Flusses Mincio entstanden. Die Seen dienten ursprünglich dem Schutz der prunkvollen Stadt vor Angreifern – und Jahrhunderte später vor Plünderern. Im Zentrum dieser wehrhaften Schönheit steht die Familie Gonzaga, die Mantova im Mittelalter regierte. Ihr architektonisches Erbe prägt das Stadtbild bis heute und verleiht der Altstadt eine eindrucksvolle Eleganz. Seit 2008 zählt sie zum UNESCO-Weltkulturerbe – ein kleines Florenz der Po-Ebene, wenn auch mit rund 50’000 Einwohnern deutlich beschaulicher als das toskanische Original.
Zu den herausragenden Bauwerken zählt der Palazzo Te – ein Vorstadtpalast, den Markgraf Federico II. Gonzaga errichten liess. Er ergänzt den zentral gelegenen Palazzo Ducale und liegt auf der Isola del Teieto, kurz «Te». Nach diesem Ort ist auch die «Curva Te» benannt – die Heimat der Ultras Mantova. Diese feierten im März ihr 50-jähriges Bestehen und wurden von der Mannschaft zur Jubiläumssaison würdig beschenkt: Nach 14 Jahren gelang dem Verein der Wiederaufstieg in die Serie B. Es ist immer wieder faszinierend, wie sich eine beinahe verwaiste Fankurve in Italien mit dem sportlichen Erfolg wieder mit Leben füllt.
So auch heute: Das Stadion – benannt nach dem in der Nähe geborenen Fussballer Danilo Martelli, der 1949 beim Flugzeugunglück von Superga ums Leben kam – war mit 9’602 Zuschauern gut besucht. Darunter auch 940 mitgereiste Gästefans, die sich dank einer «trasferta libera» endlich wieder einmal frei bewegen durften. Grund für diese seltene Reisefreiheit: die langjährige Freundschaft zwischen den beiden Fanszenen, die seit 1993 besteht. Sie wurde an diesem heissen Nachmittag beiderseits mit Spruchbändern gewürdigt. Nur auf dem Platz gab es keine Geschenke: Die Gastgeber, im weiss-roten Trikot, das stark an jenes von River Plate erinnert, fertigten Cesena gleich mit 3:0 ab – und machten damit einen grossen Schritt in Richtung Klassenerhalt.