Mit ihren am Hinterkopf hochtoupierten Haaren, den grossen Ohrringen, der Hornbrille und dem biederen Kleid sieht meine Sitznachbarin aus wie die Sekretärin der kommunistischen Partei Armeniens. Das EM-Qualifikationsspiel zwischen ihrem Heimatland und Kroatien scheint sie tatsächlich kaum zu interessieren, stattdessen verfolgt sie angespannt die WM im Gewichtheben auf dem Laptop vor ihr. Meine Frage, was von den Fans da immer wieder gerufen wird, kann sie mir dennoch beantworten: «Hayastan, hup tur», was als «Auf geht’s, Armenien» zu verstehen sei und eine Adaption des Fangesangs darstellt, der Ararat Jerewan 1973 zum Double im sowjetischen Fussball getragen hatte.
Mit den lautstarken Anhängern im Rücken soll 50 Jahre später mit der erstmaligen Qualifikation für die EM-Endrunde das nächste armenische Fussballmärchen geschrieben werden. Ein starker Start in die Kampagne hat im Land eine Euphorie ausgelöst, sodass die grössten Fans des Nationalteams gar zum Marsch vom Friedensplatz zur Spielstätte aufgerufen haben. Dem Aufruf folgt nebst den beiden Fangruppierungen «First Armenian Front» und «Red Eagles Armenia» auch eine Vielzahl anderer patriotischer Anhänger. Weit vor Anpfiff bahnt sich der Tross, dessen Gesänge immer wieder von ohrenbetäubenden Böllern unterbrochen werden, den Weg zum ausverkauften «Vazgen Sargasyan Republican Stadion», das in der Abendsonne eine magische Anziehungskraft ausstrahlt.
Seit dem Rücktritt von Henrikh Mkhitaryan fehlt dem armenischen Nationalteam zwar der grosse Name, dennoch wehrt sich der Aussenseiter gegen Kroatien tapfer. Zu selten jedoch können die weiten Bälle und Konter der Gastgeber konkrete Torgefahr heraufbeschwören, sodass dem WM-Finalisten von 2018 ein Treffer nach einem Eckball zum Sieg reicht. Wie bereits in Aserbaidschan kommt der Favorit damit glücklich zu drei Punkten, während das Heimteam nach einem guten Auftritt mit dem 0:1 auf der Anzeigetafel hadert. Für den grössten Aufreger des Abends sorgt allerdings eine Szene einige Meter über dem Spielfeld: Hier kreist plötzlich eine an einer Drohne befestigte Flagge von Bergkarabach, was für einen Spielunterbruch sorgt und von grossen Teilen der 14’233 Zuschauer frenetisch gefeiert wird.
Bergkarabach steht seit Jahren im Brennpunkt der Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Historische und kulturelle Unterschiede, die bis zur Zeit vor dem Ende der Sowjetunion zurückreichen, haben zu erheblichen Unruhen und hohen Verlusten auf beiden Seiten geführt. Dieses Gebiet, das offiziell zu Aserbaidschan gehört, wird primär von Armeniern bewohnt und strebt unter dem Namen «Republik Arzach» seit vielen Jahren nach Frieden und Unabhängigkeit. Anmerkung: Wenige Tage nach diesem Spielbesuch resultierte eine Militäroffensive Aserbaidschans in der Kapitulation der Regierung von Arzach und dem Verlust ihrer territorialen Kontrolle. Infolgedessen floh ein Grossteil der hauptsächlich armenischen Bevölkerung – über 100’000 Menschen – nach Armenien.
Das Zentrum des Landes stellt die Hauptstadt Jerewan dar, eine der ältesten ständig bewohnten Städte der Welt. Sie liegt zwischen dem Vulkan Aragaz im Nordwesten und dem auf türkischem Boden stehenden Berg Ararat im Süden, dem vermeintlichen Landeplatz der Arche Noah. Trotz pompösen Sowjetbauten und dem weit verbreiteten Einsatz von rosa Tuffstein hinterlässt die Millionenstadt insgesamt einen trostlosen Eindruck. Mit dem Mahnmal auf dem Hügel Zizernakaberd wird die Erinnerung an die Opfer des Völkermordes aufrechterhalten, der während des Ersten Weltkriegs durch das Osmanische Reich an den Armeniern verübt wurde. Der Genozid kostete hunderttausende Menschenleben, was bis zum heutigen Tag spürbare Narben in der armenischen Gesellschaft hinterlassen hat.