Soeben hatte der Schiedsrichter das Heimspiel von Raja Casablanca abgepfiffen und ich lief mit den Menschenmassen zurück zur Hauptstrasse. In diesem Moment ging mir eine einzige Frage durch den Kopf: Wieso höre ich jetzt nicht auf? Ein Besuch in einem Fussballstadion wird nach diesem Wochenende nie mehr lauter und wohl auch nie mehr emotionaler sein. Was bringt es mir also, irgendwann noch nach Wolfsberg oder zu Perugia Calcio zu fahren? Ziemlich genau zehn Jahre nach meinen Groundhopping-Anfängen stellte ich mir zum ersten Mal die Sinnfrage.

Gleich und doch anders

Obwohl mich die beiden Fussballabende in der marokkanischen Metropole im selben aufgewühlten Gemütszustand zurückliessen, waren sie doch ganz unterschiedlich. Zwar mussten auch bei Raja bewusstlose Jugendliche mit Fischerhut auf dem Kopf von Polizisten aus dem Block getragen werden, während ihre Kollegen im Innenraum von der Menge mit allerhand Gegenständen eingedeckt wurden.

Doch im Gegensatz zum perfekt orchestrierten Anhang von Wydad wirkte die Curva Sud Magana von Raja deutlich weniger organisiert. Bereits beim ersten Blick offenbarte sich dem Betrachter ein in schwarz gehüllter Block voller testosterongeladener Jugendlicher, die sich im Minutentakt und auf engem Raum kurze aber heftige Auseinandersetzungen lieferten. Rohe Gewalt, die Erinnerungen an das verheerende Duell im Frühjahr 2016 zwischen Raja und Chabab Rif Al Hoceima aufkommen liessen. Jenes Spiel, das die Subkultur der Ultras in Marokko beinahe hatte aussterben lassen. Damals kam es zwischen Vertretern der Ultra Green Boys und der Ultras Eagles zu Machtkämpfen, die in schwersten Ausschreitungen und tragischerweise auch im Tod zweier Rajaouis endeten.

Mittlerweile hat sich die Ultrà-Bewegung Marokkos wieder erholt und scheinbar auch die Corona-Pandemie überwunden. Als die Zaunfahnen kurz vor dem Anpfiff ausgerollt wurden, offenbarte sich dennoch eine Änderung zu früher. Die dritte Gruppe «Derb Sultan» – benannt nach dem Stadtviertel, aus dem Raja stammt – hat sich aufgelöst, um den beiden grossen Gruppen Platz zu lassen, darunter mit den Green Boys auch die älteste des Landes.

Gesellschaftskritik in Liedform

Unter ihrer Leitung sorgten in den kommenden 90 Minuten besonders die Lieder L’Khadra L’Wataniya (Grüne Nation) und Fbladi Delmouni (Mein Land hat mich betrogen) für Gänsehaut. Während ersteres an die Klub-WM 2013 erinnert, bei der Raja erst im Final von den Bayern gestoppt wurde, beschäftigen sich die Zeilen des zweiten mit dem gescheiterten Staat und der Hoffnungslosigkeit junger Marokkaner. Ihren Siedepunkt erreichte die Stimmung, als Raja mit Anbruch der Schlussviertelstunde endlich das 1:0 erzielte und sich – mit nur sieben Toren in sechs Spielen – wie Erzrivale Wydad vor 43’651 Zuschauern den Gruppensieg in der Champions League sicherte.

Es mag stimmen, dass ich künftig nicht mehr viele Fussballspiele erleben werde, die mich von der Stimmung, den Melodien und dem Stadionerlebnis derart fesseln, wie die beiden an diesem Wochenende in Marokko. Doch geht der Reiz solcher Partien nicht auch davon aus, dass man sie nur ganz selten erlebt? Denn erst wer einmal an einem kalten Samstagabend frierend auf der Gegentribüne in Annecy gesessen hat, kann Abende wie jene in Casablanca so richtig geniessen.