Wer vom Engadin aus den Berninapass überquert, dem steht eine steile Abfahrt in den südöstlichsten Zipfel der Schweiz bevor. Es geht hinunter ins Puschlav, vorbei an steinigen Berglandschaften, denen der Autofahrer deutlich weniger Aufmerksamkeit schenken kann als der Passagier in der Bernina Bahn, die in dieser Region zum UNESCO-Welterbe zählt.

Eine ihrer letzten Haltestellen vor der italienischen Grenze heisst Campascio und ist der Ort, an dem Valposchiavo Calcio seine Heimspiele austrägt. Vor zwanzig Jahren dem Zusammenschluss der AC Poschiavo und der US Brusiese entsprungen, spielt der Verein im Ostschweizer Fussballverband mit. Dies bedeutet nicht selten weite Anreisen und so kommt es vor, dass die Feierabendfussballer, wie etwa beim Auswärtsspiel in Buchs, rund 2.5 Stunden unterwegs sind – eine Seltenheit in der Schweizer Liga.

Auf dem Sportplatz Casai, nur fünf Kilometer von Tirano entfernt, wird Italienisch gesprochen. Einzig die Aufforderung „Pfiff emol, Pink Panther“ eines Seniors an den in pink gekleideten Schiedsrichter erinnert mich daran, dass die meisten Menschen hier auch Dialekt sprechen können. Es herrscht eine familiäre Atmosphäre unter den 60 Zuschauern, die an diesem frühen Samstagabend auf der kleinen Tribüne oder auf den Festbänken Platz genommen haben. Die Salsiccia brutzelt auf dem Grill, Kinder spielen mit dem Hund auf dem trockenen Rasen und die Seitenlinien weisen die eine oder andere Krümmung auf, die eigentlich nicht sein sollte. Die Europameisterschaft ist in solchen Momenten ganz weit weg.

Zu Gast ist heute der Tabellenführer aus Ems, während Valposchiavo Calcio im Mittelfeld der 3. Liga steht. Die treffsicheren Emser und das kleine Spielfeld lassen mich auf ein torreiches Spiel hoffen. Doch das Gegenteil ist der Fall und so muss ich mich bis zur letzten Minuten gedulden, ehe die Angst vor dem ersten torlosen Unentschieden seit Dezember 2019 doch noch aus dem Hinterkopf verschwindet. Es sind die Gäste, die mich und sich nach einem Freistoss aus dem Halbfeld erlösen. Die Freude über den vermeintlichen Siegtreffer ist gar so gross, dass der Linienrichter – ein Emser Auswechselspieler – sein Trikot auszieht und mit der Mannschaft feiert. Für diesen Neutralitätsverlust bekommt er vom Schiedsrichter prompt die gelbe Karte gezeigt. Auch auf dem Platz werden die Emser in der letzten Minute der Nachspielzeit noch zünftig bestraft. Eine rote Karte und ein damit verbundener Penaltypfiff bedeuten die grosse Chance zum Ausgleich für Valposchiavo. Es ist eine Aufgabe für den 38-jährigen Paolo Nogheredo, den älteste Spieler in den Reihen der Gastgeber. Der Routinier behält die Nerven und verwertet sicher zum 1:1. Danach ist Schluss, zumindest mit dem spielerischen Teil, denn der turbulenten Nachspielzeit folgt eine Rubelbildung im Mittelkreis.