«Non ha un orario» heisst es, als ich an der Bar im Bahnhofsgebäude von Catanzaro Lido nach einer Verbindung in die Stadt frage. Aber ich hätte Glück, bald würde ein Bus fahren, ergänzt die ältere Dame hinter dem Tresen ob meines irritierten Gesichtsausdrucks. Seit dem Ausfall der Schmalspurbahn vor einiger Zeit wird die 85’000-Einwohner-Gemeinde an den Hängen dreier Hügel nur noch unregelmässig und von Bussen bedient. «Bald» bedeutet in diesem Fall eine gnädige halbe Stunde Wartezeit, dann geht’s vom Bahnhofsvorplatz aus hoch nach Catanzaro. Die Fahrt von der Stiefelsohle Italiens auf über 340 Höhenmeter bietet nicht nur wegen Aussicht auf das Ionische Meer eine gehörige Portion «Italianità». Viel eher zeichnen meine Sitznachbarn dafür verantwortlich: ein zahnloser Mittfünfziger-Ultra sowie ein versiffter Typ mit Rasta-Frisur, der sein fussballfanatisches Gegenüber in ein Gespräch zu verwickeln versucht. Dieser entgegnet kein Wort, scheint bisweilen aber zu nicken, was allerdings auch an den zahlreichen Schlaglöchern liegen könnte – zumindest genügt es dem Rasta-Mann, um seinen gesellschaftskritischen Monolog bis zur Endhaltestelle fortzuführen.
Das wohlige südländische Lebensgefühl übermannte mich bereits am frühen Morgen, als ich in Lamezia zu meinem Cappuccino ein mit Zucker überzogenes Cornetto ass, während auf dem Röhrenfernseher in der Ecke die Zusammenfassung des letzten MotoGP-Rennens lief. Die kalabrische Morgensonne verlieh dem vergilbtem Gelbton des Bahnhofsbistro neuen Glanz, während auf dem Perron zwei Senioren abwechselnd den Nasenschleim hochzogen und husteten. Ein leerer Estathé-Eistee im Trassee liess mich in Erinnerungen an laue Sommerabende schwelgen, bis das Bimmeln die Einfahrt des Triebwagens ankündigte und mich aus dem Träumen riss. Im Inneren des Zuges bot sich ein Bild, das zugleich vertraut und vernachlässigt wirkte: abgewetzte Sitzpolster und dreckige Scheiben, welche die vorüberziehende Landschaft nur schemenhaft erkennen liessen. Eine im Fahrtrhythmus schwingende Abteiltüre ergänzte das monotone Brummen des Dieselmotors. Bei jedem Halt flog zudem die Fahrerkabine auf und der rauchende Lokführer vergewisserte sich, dass er weiterfahren konnte.
Im Norden der kalabrischen Hauptstadt steht mit dem Stadio Nicola Ceravolo eine der ältesten Sportstätten Italiens. Historisches trug sich hier jüngst auch mit dem Aufstieg in die Serie B zu, in der die Gastgeber in ihrer Premieren-Saison das Publikum mit überraschenden Siegen verzücken. All dies just in dem Jahr, in welchem die Ultras Catanzaro ihr 50-jähriges Bestehen zelebrieren. Diese luden wenige Wochen zuvor zu grossen Feierlichkeiten in der Innenstadt und begrüssten dabei nebst den beiden Gemellaggi aus Florenz und Brescia auch Vertreter der Amicizie aus Siracusa, Milano (Inter), Locri, Potenza, Barletta und Salzburg.
Die erwartete Choreografie zu einem halben Jahrhundert «Ultrà» in Catanzaro blieb an diesem Wochenende allerdings aus und folgte stattdessen zum Jahresende gegen Brescia. Auch sonst fehlten dem ersten kalabrischen Derby in der Zweitklassigkeit seit 33 Jahren die ganz grossen Emotionen. Nichtsdestotrotz spürten – besonders nach den Toren – die 13’382 Zuschauer bis auf die hinter der Gegengerade neugebauten Palazzina, welches Potenzial in der «Curva Ovest Massimo Capraro» schlummert.
Italiens Beobachtungsstelle für Sportveranstaltungen hatte das Spiel auf die Risikostufe 3 gesetzt, sodass aus Cosenza lediglich 750 Gästefans mit Tessera-Verpflichtung nach Catanzaro reisen durften. Die Curva Nord boykottierte daraufhin das Auswärtsspiel, während die Gruppen aus der Curva Sud mittels einer «Entrata» zum Anpfiff Geschlossenheit demonstrierten. Nicht nur auf dem Rasen ging das Lokalduell zwischen den Adlern (Aquile) und Wölfen (Lupi) mit 2:0 an den Gastgeber, auch auf den Rängen liess Cosenza nebst einer kleinen Tifo-Einlage etwa bei den Spruchbändern Kreativität vermissen.
Da meine Mitfahrgelegenheit für den Rückweg kurzfristig platzte (hier nachzuhören) und am Sonntagabend natürlich kein Bus mehr fuhr, war guter Rat plötzlich teuer, um rechtzeitig für die letzte Zugverbindung an die Küste zu gelangen. So fragte ich mich auf der Medientribüne nach einem Chauffeur durch und wurde bei Francesco Squillace fündig, der mich nicht nach Catanzaro Lido, sondern gleich bis ins Nachtquartier nach Lamezia fuhr. Für Squillace, der als Schiedsrichter-Beobachter für die «L’Associazione Italiana Arbitri» (AIA) arbeitet, bedeutete dies nur einen kleinen Umweg auf seinem Weg ins Hotel am Flughafen, musste der Herr doch am Folgetag die Unparteiischen beim Aufeinandertreffen zwischen Hellas Verona und Lecce observieren. Für seine Fahrt bis vor meine Unterkunft wollte ich ihm einen 20-Euro-Schein in die Hand drücken – doch der ehemalige Serie-A-Schiedsrichter lehnte vorbildlich ab.