«Eint Begeisterung mit einer Stimme um einer edlen, heiligen Aufgabe willen.» Darüber, ob die akustische Unterstützung eines Fussballklubs eine heilige Aufgabe ist, lässt sich streiten. Wohl auch deshalb haben die Anhänger der BSG Chemie Leipzig den Text angepasst und in ihrem bekannten Fangesang nur die Melodie von «Buruh Tani» beibehalten. Seit sie sich vor zwei Jahren für ihr Fanzine «Orange Times» bei mir nach der Bedeutung und den Hintergründen zum Lied aus der indonesischen Widerstandsbewegung erkundet hatten, stand ich in losem Kontakt mit Einzelpersonen aus der Fanszene. Im Herbst 2023 kam es schliesslich zum Besuch mit meiner Vortragsreihe «Fankultur in Indonesien» in Connewitz. Ein besonderer Abend, zumal im Süden der sächsischen Grossstadt auch eine einstige Führungsfigur aus der Fanszene von Sleman eine neue Heimat gefunden hat.

Um mir von der angepriesenen «Anarchie im Kunze-Sportpark» selbst ein Bild zu verschaffen, wartete ich ein würdiges Spiel ab. Das Duell der Chemiker gegen den FSV Zwickau erfüllte in der 25. Runde der Regionalliga Nordost schliesslich sämtliche Vorraussetzungen für die Stippvisite in Leutzsch. Nebst dem sportlichen Kräftemessen kommt es dabei auch zum Fanzine-Duell zwischen «Erlebnis Fussball» und «Blickfang Ultra» sowie zum Aufeinandertreffen zweier etablierter Ultra-Gruppierungen. Zwischen den «Diablos» auf der einen und «Red Kaos» auf der anderen Seite scheint weiter ein Respektverhältnis zu herrschen, ob gar noch der von Seiten Leipzigs in den Anfangszeiten beschriebene «Waffenstillstand» herrscht, wage ich jedoch zu bezweifeln. Schon damals kein gutes Wort hatten die Diablos hingegen für ihren «Lok»alrivalen über, der «in Sachen Liedgut und Choreografien nicht annähernd unser Niveau erreicht». Eine treffende Aussage, auch wenn die Diablos bei einem Zug­über­fall in Bit­ter­feld 2003 ihre Zaunfahne an Hal­lenser Fans (und deren Freunde vom FC Lokomotive Leipzig) verloren hatten. Nichtsdestotrotz hängt das bekannte Banner mit dem Teufelskopf, von dem sich einige Jahre später scheinbar auch das Pfalz Inferno aus Kaiserslautern inspirieren liess, bis heute zentral hinter dem Tor.

Die Chemiker lieferten an diesem Tag den erwartet erfrischenden Auftritt ab, der beweist, welches Potenzial für eine engagierte und reife Fanszene in einer grossen Rivalität, einer dezidierten Auseinandersetzung mit der städtischen und der eigenen Vereinsgeschichte sowie einer langjährigen Freundschaft nach Frankfurt liegt. Dies zeigt sich dem aufmerksamen Stadionbesucher etwa in Form eines gesanglichen Konters auf den bekannten Zwickauer Schlachtruf «Dass wir Zwickauer sind». Nebst ihrem Liedgut überzeugten auch die Gäste mit einem Fahnenintro, welches das Wort «Voran» formte, sowie eingängigen Trommelrhythmen. Nur der erlebnisorientierte Zwickauer «A Block» am Rande der Hintertortribüne wirkte abseits des Kerns der kreativen Fanszene wie ein Fremdkörper.

Ein Highlight stellt auch das Stadion am Leipziger Auwald dar, obschon statt den einst über 30’000 zugelassenen Fans aufgrund von Auflagen des Ordnungsamtes nur gerade 4999 Zuschauer anwesend sein dürfen. Neben der schönen Holztribüne und den mittels einer Spendenkampagne finanzierten Flutlichtern lässt vor allem der zweigeteilte Norddamm mit seinen windschiefen Stehstufen die Herzen traditioneller Fussballfans höher schlagen. Bis nach der Wende trug die Spielstätte den Namen des kommunistischen Widerstandkämpfers Georg Schwarz, der 1945 hingerichtet wurde. Seit 1992 ist sie nach dem erfolgreichen Trainer Alfred Kunze benannt, der die BSG 1964 überraschend zum Titel in der DDR-Oberliga führte. Der sich in diesem Mai zum 60. Mal jährende Coup lässt die Chemiker offenbar bis heute über die einstige Zugehörigkeit Kunzes zur NSDAP hinwegsehen.

Als DDR-Vertreter scheiterte Leipzig damals im Europapokal der Landesmeister bereits in der 1. Runde deutlich am ungarischen Vertreter aus Györ. Zwei Jahre und einen Pokalsieg später bestritt die BSG gegen Legia Warschau und Standard Lüttich seine vorerst letzten internationalen Pflichtspiele. 1990 verschwand der Klub gar gänzlich von der Bildfläche, als er nach einer Fusion mit der BSG Chemie Böhlen im FC Sachsen Leipzig aufging. Erst 18 Jahre später ging die BSG Chemie wieder unter ihrem traditionellen Namen an den Start, als Anhänger, die sich bereits 1997 zur Erhaltung des alten Namens in Vereinsstrukturen formiert hatten, eine Mannschaft als Antwort auf Unstimmigkeiten rund um den FC Sachsen Leipzig in der tiefsten Spielklasse anmeldeten. Nach diversen Aufstiegen und einer Übernahme des Spielrechts des damaligen Sechstligisten VfK Blau-Weiss Leipzig zählt der Klub nun bereits seit fünf Saisons zum Inventar der Regionalliga Nordost.

In der 4. Liga rangiert der Klub derzeit im hinteren Mittelfeld, was ein Fan im Spieltagsheft der Leutzscher wie folgt einordnet: «Mir fehlt die sportliche Übersicht, um zur derzeitigen Situation eine fachkundige Meinung geben zu können. Eleganten Fussball sind wir eh nicht gewohnt, aber irgendwie ist der Stolperfussball schlimmer geworden.» Tatsächlich ist das Niveau überschaubar, das die Leipziger gegen den Absteiger aus Zwickau auf der holprigen Unterlage bieten. Zum Schluss ist es aber kein Stolperer, sondern ein simpler Abspielfehler eines Verteidigers, der zum kollektiven Haareraufen auf dem unteren Norddamm und dem bitteren 1:2 in den Schlussminuten führt.