Pünktlich zum Jahresende hat die «Cancel Culture» auch das englische Schienennetz erreicht. Der Post-Brexit-Streik verschiedener Betreibergesellschaften hat in meinem Fall eine siebenstündige Odyssee von Blackpool nach Lincoln zur Folge und offenbart drei Erkenntnisse: Ich habe die Privatisierung relevanter Verkehrszweige stets zurecht kritisiert, der durchschnittliche Engländer verhält sich im Zug lauter als im Stadion und mein ausgeprägter Sarkasmus wird – wenn überhaupt – von 75-jährigen Ehemännern verstanden.

130 Kilometer nördlich von Cambridge und 58 Partien nach dem Auftakt in der Universitätsstadt endet mein Fussballjahr wiederum mit einem Besuch bei einem englischen Drittligisten. Tatsächlich hält der Abschluss einen raren Moment totaler innerer Zufriedenheit bereit: ein Beobachten des Gewusels vor den Stadioneingängen. Kindische Väter, die ihren Lieblingsklub auch dem desinteressierten und vor Kälte schlotternden Nachwuchs aufzwingen wollen, vorlaute Mittdreissiger-Gruppen, die mit einem Bier in der Hand Spielsystem und Trainer kritisieren oder unverwüstliche Senioren, die sich ungeachtet der Schlange hinter ihnen seelenruhig mit der Kassiererin der Würstchenbude unterhalten.

Aus der Zeit gefallen

Auch die Spielstätte versprüht mit ihrer alten Anzeigetafel und den unbequemen Ersatzbänken viel Charme. Einen Blickfang stellt die verhältnismässig kleine Haupttribüne dar. Aufgrund des Abstiegs von Lincoln City aus der EFL zum Zeitpunkt des Baus 1987 wurde sie bewusst kleiner gehalten und fällt 35 Jahre später in Zeiten der Drittklassigkeit aus dem Rahmen. Die vielen in Gelb gehaltenen Treppenaufgänge verleihen ihr zusätzliche Charakteristik. Insgesamt besteht die Sincil Bank aus sechs eigenständigen Tribünen, wobei die Gästefans derzeit auf dem «Stacey West Stand» Platz finden, der an Bill Stacey und Jim West erinnert. Die beiden Lincoln-Anhänger verloren 1985 beim Gastspiel ihres Klubs in Bradford gemeinsam mit 54 weiteren Personen bei der Valley-Parade-Feuerkatastrophe ihr Leben.

Die 9074 Zuschauer, darunter eine vierstellige Anzahl aus Bolton, sehen eine hitzige Partie, in der nach dem Seitenwechsel mit dem Ausgleich der Gäste und einem Platzverweis gegen Lincoln die Machtverhältnisse schlagartig kippen. Die «Imps» überstehen eine intensive Schlussphase mit diversen Raufereien aber schadlos und können das 1:1 schliesslich über die Zeit retten.

Während diese Blogpräsenz primär schwärmerisch über Fankurven und Fussballstadien berichtet, kommt es an dieser Stelle zu einer Ausnahme. Grund dafür ist die Kathedrale Lincolns, die auf dem Castle Hill die Krönung einer schmucken Altstadt darstellt. Es kommt angesichts der unglaublich vielen architektonischen Details und Verzierungen beinahe einer Beleidigung gleich, dass ein nur etwa 30 Zentimeter grosser Neidkopf (zu Englisch «Imp») in einer hinteren Ecke des Kirchenschiffs als Hauptsehenswürdigkeit gilt und auch den lokalen Fussballklub bei der Logowahl inspiriert hat.