Armenien - Kroatien

Mit ihren am Hinterkopf hochtoupierten Haaren, den grossen Ohrringen, der Hornbrille und dem biederen Kleid sieht meine Sitznachbarin aus wie die Sekretärin der kommunistischen Partei Armeniens. Das EM-Qualifikationsspiel zwischen ihrem Heimatland und Kroatien scheint sie tatsächlich kaum zu interessieren, stattdessen verfolgt sie angespannt die WM im Gewichtheben auf dem Laptop vor ihr. Meine Frage, was von den Fans da immer wieder gerufen wird, kann sie mir dennoch beantworten: «Hayastan, hup tur», was als «Auf geht’s, Armenien» zu verstehen sei und eine Adaption des Fangesangs darstellt, der Ararat Jerewan 1973 zum Double im sowjetischen Fussball getragen hatte.

Mit den lautstarken Anhängern im Rücken soll 50 Jahre später mit der erstmaligen Qualifikation für die EM-Endrunde das nächste armenische Fussballmärchen geschrieben werden. Ein starker Start in die Kampagne hat im Land eine Euphorie ausgelöst, sodass die grössten Fans des Nationalteams gar zum Marsch vom Friedensplatz zur Spielstätte aufgerufen haben. Dem Aufruf folgt nebst den beiden Fangruppierungen «First Armenian Front» und «Red Eagles Armenia» auch eine Vielzahl anderer patriotischer Anhänger. Weit vor Anpfiff bahnt sich der Tross, dessen Gesänge immer wieder von ohrenbetäubenden Böllern unterbrochen werden, den Weg zum ausverkauften «Vazgen Sargasyan Republican Stadion», das in der Abendsonne eine magische Anziehungskraft ausstrahlt.

Seit dem Rücktritt von Henrikh Mkhitaryan fehlt dem armenischen Nationalteam zwar der grosse Name, dennoch wehrt sich der Aussenseiter gegen Kroatien tapfer. Zu selten jedoch können die weiten Bälle und Konter der Gastgeber konkrete Torgefahr heraufbeschwören, sodass dem WM-Finalisten von 2018 ein Treffer nach einem Eckball zum Sieg reicht. Wie bereits in Aserbaidschan kommt der Favorit damit glücklich zu drei Punkten, während das Heimteam nach einem guten Auftritt mit dem 0:1 auf der Anzeigetafel hadert. Für den grössten Aufreger des Abends sorgt allerdings eine Szene einige Meter über dem Spielfeld: Hier kreist plötzlich eine an einer Drohne befestigte Flagge von Bergkarabach, was für einen Spielunterbruch sorgt und von grossen Teilen der 14’233 Zuschauer frenetisch gefeiert wird.

Bergkarabach steht seit Jahren im Brennpunkt der Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Historische und kulturelle Unterschiede, die bis zur Zeit vor dem Ende der Sowjetunion zurückreichen, haben zu erheblichen Unruhen und hohen Verlusten auf beiden Seiten geführt. Dieses Gebiet, das offiziell zu Aserbaidschan gehört, wird primär von Armeniern bewohnt und strebt unter dem Namen «Republik Arzach» seit vielen Jahren nach Frieden und Unabhängigkeit. Anmerkung: Wenige Tage nach diesem Spielbesuch resultierte eine Militäroffensive Aserbaidschans in der Kapitulation der Regierung von Arzach und dem Verlust ihrer territorialen Kontrolle. Infolgedessen floh ein Grossteil der hauptsächlich armenischen Bevölkerung – über 100’000 Menschen – nach Armenien.

Das Zentrum des Landes stellt die Hauptstadt Jerewan dar, eine der ältesten ständig bewohnten Städte der Welt. Sie liegt zwischen dem Vulkan Aragaz im Nordwesten und dem auf türkischem Boden stehenden Berg Ararat im Süden, dem vermeintlichen Landeplatz der Arche Noah. Trotz pompösen Sowjetbauten und dem weit verbreiteten Einsatz von rosa Tuffstein hinterlässt die Millionenstadt insgesamt einen trostlosen Eindruck. Mit dem Mahnmal auf dem Hügel Zizernakaberd wird die Erinnerung an die Opfer des Völkermordes aufrechterhalten, der während des Ersten Weltkriegs durch das Osmanische Reich an den Armeniern verübt wurde. Der Genozid kostete hunderttausende Menschenleben, was bis zum heutigen Tag spürbare Narben in der armenischen Gesellschaft hinterlassen hat.


Aserbaidschan - Belgien

«Fussball interessiert hier niemanden», meint Azad und klopft mir auf die Schultern. Es ist der gut gemeinte Aufmunterungsversuch unseres Fahrers, nachdem es das Hotelpersonal in Baku ganz offenbar trotz mehrfachem Beteuern vergessen hatte, die nur vor Ort erhältlichen Tickets für das EM-Qualifikationsspiel zwischen Aserbaidschan und Belgien zu erwerben. Spätestens als uns daraufhin der Rezeptionist noch dümmlich angegrinst hatte, erkannte der kleingewachsene Aseri mit buschigen Augenbrauen und furchigem, aber gutmütigem Gesicht den Ernst der Lage und fügte an, dass wir am Stadion sicher eine Lösung finden würden.

Gespielt wird allerdings nicht im Olympiastadion von Baku, sondern in der wesentlich kleineren Dalga Arena, der Heimat des Erstligisten Araz PFK, rund 40 Minuten östlich der Hauptstadt in der Siedlung Merdekan. In der höchsten Liga Aserbaidschans stammen nur drei Klubs nicht von der Halbinsel Apscheron, auf der nebst Baku mit Sumqayit auch die zweitgrösste Stadt liegt. Ein Sonderfall stellt der Qarabag FK dar, mit neun Titeln gemeinsam mit Neftchi Baku der Rekordmeister des Landes. Der Klub stammt aus der Stadt Agdam, die 1993 von der armenischen Armee aus strategischen Gründen im Konflikt um das nahegelegene Bergkarabach besetzt und vollständig zerstört wurde. Von den rund 30’000 Einwohnern sind praktisch alle geflüchtet, darunter auch der heimische Fussballklub, der seither in Baku ein Exil-Dasein fristet.

Azad, der uns am Nachmittag wie versprochen an die Küste des Kaspischen Meeres fuhr, war in der Zwischenzeit nicht untätig geblieben. Er hatte seinen Schwager über unsere Anwesenheit unterrichtet, der als Polizist bei den Einlasskontrollen im Einsatz stand und einem Jungspund zwei Tickets abknöpfte, sodass die Gäste aus Westeuropa kurz vor Anpfiff doch noch in das Stadion gelangten. Trotz Namen wie Jan Vertonghen, Leandro Trossard und Romelu Lukaku bekundeten die Belgier mit dem mutigen Auftreten der Aseris Mühe und konnten nur dank eines abgefälschten Schusses das eigentlich verdiente Remis verhindern.

Trotz des 0:1 gab es von den 4500 Zuschauern nach dem Schlusspfiff aufmunternden Applaus, allen voran von einer Gruppe Jugendlicher, die sich hinter einer Zaunfahne mit der Aufschrift «Milli Holigans» eingefunden hatte. Sturmmasken und eine eingehakte Frontline auf dem Marsch hielten dabei den orthografischen Schwächen in der Gesamtwahrnehmung die Waage. Nur in der Trikotwahl besteht wohl interner Gesprächsbedarf, so waren im Fanblock nebst Exemplaren von Fenerbahce auch solche von Galatasaray und Besiktas zu sehen und auch auf den anderen Tribünen war die politische und ideologische Nähe zur Türkei durch diverse Flaggen spürbar.

Aserbaidschan wird seit 2003 von Ilham Aliyev geführt, der das Amt von seinem Vater Heydar übernommen hat. Die autokratische Herrscherfamilie schränkt die Meinungsfreiheit und die Rechte der Opposition ein, was dem Touristen – wenn überhaupt – aber nur durch die omnipräsente Überwachung öffentlicher Plätze ins Auge fällt. Hingegen ist der Reichtum aus dem Öl- und Gasgeschäft in Baku nicht zu übersehen: Die Hauptstadt hat sich im 21. Jahrhundert zu einer Metropole mit protzigen Moscheen, modernen Museen und futuristischen Hochhäusern entwickelt, während die drastischen Einkommensunterschiede bereits in den städtischen Randgebieten in Form simpler Behausungen mit Wellblechdächern ersichtlich sind und sich in ländlichen Gebieten weiter manifestieren.


Georgien - Spanien

Kakhaber Kaladze hat fast alles gewonnen, was man als Fussballer auf Klubebene eben gewinnen kann. Mit der AC Milan triumphierte der Georgier in der Champions League, wurde Klub-Weltmeister, holte den Super Cup und den Superpokal sowie den Sieg in der Coppa Italia und in der italienischen Meisterschaft. Seinen vermeintlich auf Ewigkeit unangefochtenen Status als georgischer Nationalheld und fünffacher Fussballer des Jahres macht ihn nun aber ausgerechnet einer streitig, der jüngst ebenfalls den Scudetto holte: Khvicha Kvaratskhelia.

Drei Mal in Folge bereits wurde dem Napoli-Akteur zuletzt diese Ehre zuteil und so erinnert der Besuch in der Boris-Paichadze-Arena nicht nur wegen ihrer Bauart und den blau-weissen Sitzschalen an den Klub am Fusse des Vesuvs, sondern auch wegen der vielen Napoli-Trikots mit dem Namen des neuen georgischen Hoffnungsträgers auf der Rückseite.

Doch auch mit dem 22-jährigen Ausnahmekönner in den Reihen bekam Georgien vor 51’694 Zuschauern in der EM-Qualifikation von Rodri, Gavi und Co. eine Lehrstunde verpasst. Beim 1:7 aus Sicht der Gastgeber traf Alvaro Morata für Spanien dreifach, den Ehrentreffer feierten die georgischen Fans – allen voran die trotz Dauerregen unermüdliche Heimkurve – dennoch wie einen Sieg.

Lauter wird es im Stadion, in dem auch Dinamo Tiflis seine Heimspiele austrägt, nur im Hohlraum unterhalb der Sitzränge. Hier liegt das Bassiani, der grösste Techno-Club Georgiens. Dieser ist aber längst kein Geheimtipp mehr, weshalb Tanzeulen und Nachtschwärmer, die etwas mehr BPM und weniger Touristen mögen, im KHIDI oder TES besser aufgehoben sind. Gemächlicher geht es hingegen in der nahegelegenen Fabrika zu und her, die sich zum Hotspot der alternativen Szene entwickelt hat und in den Räumen einer ehemaligen Näherei allerhand trendige Bars, Ateliers und Coworking-Spaces vereint.

Tiflis (oder auf Georgisch «Tbilissi») verdankt seinen Namen den warmen («tbili») Schwefelquellen in der Stadt, deren Architektur von sowjetischer Prägung bis hin zu kunstvollen Balustraden und hölzernen Veranden reicht. Einen guten Überblick bietet die Sicht von der Festung Nariqala (auf das Zentrum) oder von der Chronik Georgiens (auf die Plattenbauten an den nördlichen Ausläufern der Stadt). Denn Tiflis ist vielschichtiger und bei weitem nicht immer so pompös, wie die schöne Altstadt, futuristische Bauten entlang der Kura und die imposante Sameba-Kathedrale ­– eines der grössten orthodoxen Gebäude der Welt – vermuten lassen. Sinnbild für das Land im schleppenden Aufbruch sind die mit viel Gigantismus gebauten und seit über zehn Jahren leerstehenden Konzerthallen im Rike-Park. Will Ex-Rossonero Kaladze seinen Rang nicht endgültig von Kvaratskhelia abgelaufen sehen, könnte er hier ansetzen – seit 2017 amtet er nämlich als Stadtpräsident von Tiflis.


AC Oulu - HJK Helsinki

Nach Tagen voller langer Vokale und spezieller Betonung vernehme ich endlich wieder Schweizerdeutsch – und dann noch in einer Form mit Ostschweizer Prägung. Die vertrauten Bemerkungen, für die ich von Zürcher Arbeitskollegen bisweilen nur missgünstig gemustert werde, klingen einige hundert Kilometer südlich des Nordkaps gleich nochmals ein Stück heimeliger. Sie stammen aus dem Mund von Fussballprofi Magnus Breitenmoser. Während ihn sein Vorname zum Skandinavier macht, weiss das Gegenüber spätestens beim Toggenburger Nachnamen, warum auch er «seb» oder «afoch» sagt.

Thuner Türöffner

Welcher Weg aber führte Breitenmoser ausgerechnet ins finnische Oulu, der nördlichsten Grossstadt der Europäischen Union? Am Ursprung des kurzfristigen Wechsels steht der Berater seines Thuner Ex-Mitspielers Dennis Salanovic: «Dennis wechselte damals nach Oulu und der Klub hatte beim Berater angefragt, ob dieser auch einen passenden Mittelfeldspieler kenne», beschreibt der 25-Jährige seinen Leihtransfer im Sommer 2021 direkt aus dem Thuner Trainingslager in die «Veikkausliiga».

Im August herrschen auch im Norden Finnlands milde Temperaturen. Die Tage sind lang, die Sonne wärmt bis in die Abendstunden und am Stadtstrand kommt Badefeeling auf. «Hierhin komme ich jeweils, wenn ich Ruhe brauche», so Breitenmoser. Sehenswert sind in Finnland weniger die Stadtzentren, umso mehr ist es die Natur. Nirgendwo ausser in Russland gibt es in Europa so viele Seen und Primärwälder wie hier. Hinzu kommt eine vielfältige Fauna an der Küste des Bottnischen Meerbusens und inmitten der Nadelwälder der Taiga, die von Robben, über Elche bis zu Zugvögeln reicht. Oulu liegt abgeschieden, immerhin der FC Santa Claus ist in zweieinhalb Stunden erreichbar, auch die russische Hafenstadt Murmansk liegt weniger als einen halben Tag Autofahrt entfernt.

Mehr als eine Notlösung

Die Natur interessiert den gebürtigen Wiler in Finnland weniger, der Wechsel erfolgte aus pragmatischen Gründen. In Oulu steht er zum zweiten Mal unter Vertrag – auch, weil Ende 2022 eine Rückkehr in die Schweiz mit der Super League zum Ziel kurzfristig platzte. Breitenmoser war nach einer Vertragsauflösung mit dem FC Thun plötzlich vereinslos gewesen und hatte sich im Wiler Nachwuchs fit halten müssen, ehe Oulu erneut anklopfte und ihn für eine weitere Saison verpflichtete. Von einer Notlösung will Breitenmoser aber nicht sprechen, er schätzt Oulu auf und neben dem Rasen als Ort, an dem er «in Ruhe an sich arbeiten kann». Fussball spielt hier, wenn überhaupt, nur im «Raatin Stadion» im Norden der 200‘000-Einwohner-Gemeinde eine Rolle. Statt im Scheinwerfer- spielt Breitenmoser im Zwei-Wochen-Turnus auch schon einmal unter Polarlicht – zumindest, bis die Saison aufgrund des Klimas Ende Oktober jeweils ihr Ende nimmt. «Danach sind Temperaturen im zweistelligen Minusbereich keine Seltenheit», so der Schweizer mit kenianischen Wurzeln. Abhilfe schafft eine Indoor-Trainingshalle, ehe nach dem Jahreswechsel mit dem «League Cup» bereits wieder die Vorbereitung auf den Saisonstart im April anrollt.

Geplatztes Saisonziel

Bis dahin aber spielt Oulu unter freiem Himmel – und auf Naturrasen. Dieses Mal gastiert Liga-Krösus HJK Helsinki im Norden des Landes. Das Spiel endet mit 1:3 aus Sicht der Gastgeber, unter den 3203 Zuschauern sitzt auch Breitenmoser, der eine Trainingsverletzung auskuriert. «Ein Sieg hätte mich überrascht», so Breitenmoser, der nebst der Stärke der Hauptstädter auf Absenzen im Team verweist und sein Team von der Qualität her mit jenem des FC Schaffhausen vergleicht. Dennoch setzt sich der AC Oulu jeweils die internationalen Plätze zum Ziel. Ein Vorhaben, das 2023 frühzeitig scheitert: Am letzten Spieltag der regulären Saison verspielen die Nordfinnen die Teilnahme am Playoff der oberen Tabellenhälfte.

Davon ahnt Breitenmoser noch nichts, als ich ihn am Tag nach dem Helsinki-Heimspiel für ein Interview am Stadion treffe. Die Stimmung ist gelöst, auch wenn er nach dem jüngsten Trainerwechsel und einer Vertragslaufzeit bis Ende Jahr in eine ungewisse Zukunft blickt. Der Mittelfeldspieler spricht offen über seine Erfahrungen in der Challenge League, Anlaufschwierigkeiten im Ein-Mann-Haushalt und über das Verhältnis zu seinem Cousin, der als Sportchef beim FC Wil amtet. Seine nahbare Art passt zum Gesprächssetting inmitten verstaubter Pokale und einer spärlich ausgeschmückten Loge, der die Spuren des Vortags noch anzumerken sind.

Nach der Verabschiedung setzt sich Breitenmoser auf sein Velo und tritt in die Pedale. Nach einigen Metern dreht er sich nochmals um, grinst und ruft in breitem Ostschweizer Dialekt: «Lueg, so bini do amel underwägs.»


SJK Seinäjoki - IFK Mariehamn

«Uns mag eigentlich niemand», meint Lari Paski und zuckt mit den Schultern. Mit «uns» meint der langjährige Fan und mittlerweile Medienchef des SJK Seinäjoki seinen Arbeitgeber. Dieser entsprang 2007 einer innerstädtischen Fusion, spielte 2014 in der höchsten Liga und wurde ein Jahr darauf bereits finnischer Meister. Nebst einer hochmodernen Arena und einer erfolgreichen Jugendakademie hat SJK vor allem eines, was vielen anderen Klubs in der «Veikkausliiga» fehlt: Geld.

Immerhin haucht der Klub der verschlafenen 65‘000-Einwohner-Gemeinde an jedem zweiten Wochenende etwas Leben ein, wenn auch davon am Samstagvormittag noch wenig zu spüren ist: Im schlecht besuchten Einkaufszentrum wird ein Frischkäse als grosses Top-Angebot angepriesen, aus den Lautsprechern hallt «Radio Suomipop» und ein Burgerladen bewirbt unter dem gewöhnungsbedürftigen Namen «Big Mama» eine Spezialkreation. Auch draussen wird man das Gefühl nicht los, die Herbsttristesse habe in Seinäjoki bereits im August Einzug gehalten. Ein Verkehrsschild steht windschief am Strassenrand, dem schweigende Seniorenpaare mit nichtssagender Miene scheinbar ziellos entlangschlurfen. Das Stadtzentrum wirkt eher zweckmässig, denn schön – von einer rostigen Statue in Form eines Elchs einmal abgesehen, der in Rom oder Paris aber wenn überhaupt nur einige Hunde Beachtung schenken würden.

Auch das Stadion wirkt wie in die letzten Waldausläufer hineingefräst. Vor dem Neubau stehen eine Bühne für musikalische Darbietungen und kleine Fussballfelder für die Familien bereit, während im Innern mit «Klopit» immerhin eine kleine Gruppe bemüht ist, etwas Stimmung im sterilen Neubau zu entfachen. Der Aussenseiter aus Mariehamn, der trotz blauem Logo in Grün-Weiss antritt, geht dank eines Sonntagsschusses kurz vor der Pause in Führung. Für den Gastgeber Seinäjoki, der vom Bruder von Lukas Hradecky angeführt wird, kommt es nach dem Seitenwechsel noch schlimmer: Ein Goaliefehler steht am Ursprung des 2. Treffers für die Gäste, die in der Folge aber zu wenig für das Spiel tun und innert weniger Minuten erst das Anschlusstor und dann auch den Ausgleich hinnehmen müssen. Als sich die 3402 Zuschauer bereits mit dem Remis abgefunden haben, gelingt dem SJK tief in der Nachspielzeit gar noch das 3:2, das den beiden einzigen Gästefans einige Tränen über die Backen kullern lässt – verständlich nach derart bitterem Spielverlauf und der Aussicht auf eine 10-stündige Heimreise inklusive einer Fahrt mit der Fähre zurück auf die Aland-Inseln.

Gelöster präsentiert sich die Stimmung im Medienraum. Hier ist der offizielle Teil der Pressekonferenz mittlerweile zu Ende, die Kamera abgeschaltet und die Gruppe auf ein Quintett aus Medienchef Lari, SJK-Trainer Joaquin Gomez, einen Fotografen, einen Journalisten und mich geschrumpft. Längst ist es eine Männerrunde, die nicht mehr nur über das Spiel und den (finnischen) Fussball sinniert. «Das machen wir nach jedem Heimspiel so», erwähnt Lari schmunzelnd. Dass sich in Seinäjoki trotz fehlender Tradition ein geselliges Vereinsleben entwickelt hat, unterstreicht auch Trainer Gomez’ Aussage beim Hinausgehen: «Danke euch, ihr seid echt preiswerte Therapeuten.»


Vaasan PS - KTP Kotka

Freitagnachmittag an der Uferpromenade in Vaasa. Ein Barsch zappelt in der Reuse russischsprachiger Fischer, Birkenblätter und Schilfrohre beugen sich dem Westwind, auf dem Wasser glänzt ein Ölfilm, während darunter Blaualgen – ein Überbleibsel vergangener Hitzetage – Schwimmbegeisterte vor einer Abkühlung in Ufernähe abschrecken. Eine Schar Gänse fliegt mit lautem Geschnatter dicht über die Wasseroberfläche, während sich auf der Brücke dahinter zum letzten Mal in dieser Woche der Feierabendverkehr staut.

An der Bootsanlegestelle lädt eine Familie Proviantboxen aus dem Kofferraum ihres Autos, nebenan trägt eine Gruppe junger Erwachsener gut gelaunt Bierfässer über den Steg. Sie beladen Boote wie die «Queen» oder den «Flipper», schnittigere Modelle tragen Namen wie «Hawk», «Shark» oder «Falcon». Bald fahren sie hinaus auf die Inseln im Bottnischen Meerbusen, um am letzten Augustwochenende traditionell «Venetsialaiset», den Abschluss der Boot- und Campingsaison, zu feiern.

Nur von Fussball fehlt im Herzen der 68‘000-Einwohner-Stadt im Westen Finnlands jede Spur. In den Bars am Marktplatz sitzen keine Fans mit baumelnden Schals an den Händen und selbst auf dem Weg zum Stadion sind weder zugeklebte Ampelsäulen noch Polizisten mit grimmigem Gesichtsausdruck und in die Hüfte gestemmten Händen zu erblicken. Dabei steht im Stadtviertel Hietalahti bereits seit Mitte der 1930er-Jahre ein Fussballstadion, dessen Haupttribüne bis zum heutigen Tag besteht.

Mit den «Geezers» gehört nebst der mittlerweile gesperrten Holztribüne auch eine kleine Fanszene seit vielen Jahren zum Inventar des Vaasan PS (VPS), zählt die Gruppe mit Gründungsjahr 1998 doch zu den ältesten des Landes. Sie verfolgt das Treiben auf dem Kunstrasen mal schweigend und mal eine finnische Adaption eines Kurvenklassikers von Lech Poznan singend, während «Vepsu» seine beneidenswerte Form unterstreicht und dank eines 2:1 gegen Kotka vor 2987 Zuschauern den neunten Sieg in Folge einfährt.


FC Widnau - FC St. Gallen

Geht in den Westschweizer Gästesektoren der Super League auch heute noch regelmässig nach 65 Minuten das Bier aus, war dies seitens des FC Widnau eine Meisterleistung. Darüber war man sich im Nachgang der Cup-Partie im Lager der St. Galler Fans einig. Trotz 6350 Zuschauern, einer Zahl von der Rekordmeister GC meist nur träumen kann, gab es auf der Sportanlage Aegeten keinerlei Wutanfälle verzweifelter Biertrinker – im Gegenteil: Eine originelle Willkommensbotschaft, ein weitläufiger Sektor, ein vielfältiges Verpflegungsangebot sowie ein simples Einlassprozedere liessen die grün-weisse Anhängerschaft für einmal tatsächlich als willkommene Gäste fühlen.

Der Rheintaler Klub verdiente sich die stehenden Ovationen auf der eigens aufgebauten Tribüne aber nicht nur wegen der einwandfreien Organisation, sondern auch aufgrund des sportlich sehr ansprechenden Auftritts, etwa in Form des Traumtors (eine Direktabnahme aus spitzem Winkel) zur zwischenzeitlichen Führung oder der tollen Leistung des 17-jährigen Leo Hetzel im FCW-Gehäuse.

All dies liess über die Tatsache hinwegblicken, dass sich der FC St. Gallen beim 1:2 aus Sicht von Widnau an einem Vertreter aus der fünfthöchsten Spielklasse fast die Zähne ausgebissen hatte. Vor allem aber verstummt durch ein solches Fussballfest auch Kritik, die eigentlich angebracht ist: Wenn sich nämlich Amateurklubs aus Genf, Bern oder Zürich durch regional gegliederte Lostöpfe und vermeintliche Traumlose gezwungen sehen, ihr Heimrecht abzutauschen, geht die Magie des Schweizer Cups verloren.


Olympiakos Piräus - KRC Genk

15 der letzten 20 Meisterpokale Griechenlands gingen in die Hände von Olympiakos. Und zumindest von aussen wirkt der Rekordmeister mit seinen prall gefüllten Vitrinen im Innern der modernen Haupttribüne denn auch glanzvoller und weniger verrucht als seine beiden Athener Kontrahenten Panathinaikos und AEK.

Dabei ist Piräus nicht etwa ein schmucker Ort am Mittelmeer, sondern ein hektisches Industriezentrum mit dem fünftgrössten Hafen Europas. Längst ist die Stadt mit Athen zusammengeschmolzen und per Metro aus dessen Zentrum in einer Viertelstunde zu erreichen. Immerhin liegt mit «Mikrolimano» ein schönes Hafenbecken unweit vom Karaiskakis-Stadion, an dessen Promenade zahlreiche Olympiakos-Fans die Zeit vor dem Spiel zum gemeinsamen Nachtessen nutzen.

Dies bot sich angesichts der Anstosszeit um 22 Uhr auch an. Aufgrund langer Nachspielzeiten erstreckte sich die Partie prompt über zwei Tage, entschieden war sie – zumindest resultattechnisch – aber bereits nach 22 Sekunden. Gleich der erste Angriff der Hausherren war von Erfolg gekrönt gewesen, danach blieb Olympiakos im Hinspiel der 3. Qualifikationsrunde zur Europa League vieles schuldig – allen voran auf den Rängen. Trotz dem frühen 1:0 und einem mit 24’123 Zuschauern gut gefüllten Stadion schien die rot-weisse Fanszene um das «Gate 7» nicht sonderlich motiviert. Zwar erreichten die Gesänge der Freunde der berüchtigten Gruppen «Delije» (Roter Stern Belgrad) und «Fratria» (Spartak Moskau) Lautstärken, die Stimmungsliebhaber in vielen Stadien Westeuropas vergeblich suchen, doch ebenso oft gab es minutenlange Durchhänger; besonders in der wichtigen Schlussphase, in der Genk beinahe noch den Ausgleich erzielt hätte.

Eine Frage wollte ich zum Ende meiner Athen-Reise nicht unbeantwortet lassen und wandte mich deshalb nach Abpfiff an einen Fotografen, den ich tags zuvor bereits am Spielfeldrand bei Panathinaikos gesehen hatte. Auf mein Erkunden hin, wer denn jetzt im Dreieck um AEK, PAO und Olympiakos der jeweilige Erzrivale des anderen sei, entgegnete er nur trocken: «Hier hasst jeder jeden.»


Panathinaikos Athen - Olympique Marseille

In den verwinkelten Gassen im Viertel Ambelokipi, die sich wie unzählige Adern um das Apostolos-Nikolaidis-Stadion schlängeln, pulsiert das grün-weisse Herz Athens. Hier an den bröckelnden Mauern des «Leoforos», wie die Spielstätte von Panathinaikos im Volksmund schlicht genannt wird, werden die Geschichten vergangener Triumphe, ausgeprägter Rivalitäten und grosser Träume erzählt.

Doch die griechische Hauptstadt bietet weit mehr als verzierte Stadionmauern und verruchte Nebenstrassen. Wer seine Basis klug – etwa um den Platz Monastiraki – wählt und der Hochsommerhitze zu trotzen vermag, kann das Zentrum Athens, in dessen Ballungsraum über drei Millionen Menschen leben, fussläufig erkunden: vom Tempel des Hephaistos, über die Agora, dem Odeon des Herodes Atticus bis zur Akropolis. Auch der Syntagma-Platz mit seinen Evzonen, die klassizistische Zappeion-Baute oder das historische Panathinaiko-Stadion beeindrucken. Entspannung und Übersicht bieten die Aussicht vom Philopapposhügel oder dem Lykabettus und auch das Quartier Plaka ist – wie das Anarchistenviertel Exarchia – einen Besuch wert.

Wie viele griechische Vereine unterhält auch der «Gesamtathener Sportklub» Panathinaikos Athlitikos Omilos (PAO) zahlreiche Abteilungen, deren Teams sich nebst dem Fussball etwa im Basket-, Volley- oder Wasserball messen und besonders bei Lokalduellen zahlreich von der grün-weissen Anhängerschaft unterstützt werden. Diese tritt unter dem Namen «Gate 13» auf, was mit der Gründung Ende 1966 die älteste Fan-Vereinigung des Landes darstellt.

Wie bei den grossen Partien im Ligaalltag sind auch in der dritten Qualifikationsrunde zur Champions League gegen Olympique Marseille angesichts der besonderen Ausgangslage (die Gäste pflegen eine Freundschaft zum Erzrivalen AEK Athen) keine auswärtigen Fans zugelassen. Laut wird es dennoch immer wieder, besonders in der zweiten Halbzeit, als den 11’270 Zuschauern nach einem Platzverweis gegen die Südfranzosen bewusst wird, dass PAO hier nicht nur mit-, sondern auch um den Sieg spielen kann. Tatsächlich fällt in der 83. Minute das 1:0 für die Griechen, das am Fusse des Lykabettus kollektive Ekstase hervorruft.

Am Vortag hätte zudem das CL-Qualispiel zwischen AEK Athen und Dinamo Zagreb besucht werden sollen. Nachdem ein Fan bei Zusammenstössen getötet wurde, sagte die Uefa diese Partie kurzfristig ab. Für das Schweizer Radio und Fernsehen habe ich die Geschehnisse hier eingeordnet.


FSV Mainz 05 - FC St. Gallen

Um das Trainingslager in Österreich mit einem aussagekräftigen Testspiel zu beschliessen, scheute der Bundesligist aus Mainz keine Kosten und Mühen und flog den FC St. Gallen per Charter nach Salzburg ein. Eine kürzere Anreise bot sich da unserer Reisegruppe, für welche sich die Partie perfekt in die Heimfahrt aus dem Salzkammergut integrieren liess.

Als Schauplatz für das freundschaftliche Duell diente die Heimat des Salzburger AK im Quartier Nonntal. Auch wenn beim österreichischen Viertligisten und ältesten Klub der Stadt die einstige Holztribüne mittlerweile einem modernen Betonkomplex mit integrierten Sitzgelegenheiten und Vereinsheim gewichen ist, überzeugt der Sportplatz dank seiner Aussicht auf die Festung Hohensalzburg.

Die Mehrheit der 300 Zuschauer setzte sich aus älteren Personen aus der FSV-Anhängerschaft zusammen, die ihren Klub ins Trainingslager nach Schladming begleitet hatten. Sie sahen, wie die Rheinhessen in der Hauptprobe von Beginn weg ein hohes Tempo vorlegten und zum Schluss einen verdienten 4:1-Erfolg feierten. Ob ein solcher Tagesausflug während der Meisterschaft hingegen auch für den Gegner aus St. Gallen einen konkreten Mehrwert darstellte, wage ich zu bezweifeln.