Valur Reykjavik - FH Hafnarfjördur

Wer eine Woche abseits der Zivilisation Islands verbringt, bekommt nicht nur einmalige Natur mit überwältigender Farbwelt geboten, sondern sammelt auch einige Erkenntnisse. So weiss ich nun, dass der Goldregenpfeifer nicht mit uns wandern möchte, sondern uns nur von seinem Nest weglockt; dass noch so einladend wirkende «warme Quellen» brennend heiss sein können; dass vier Jahreszeiten in einer Stunde möglich sind; was ein «Blindhead» ist; dass strömender Regen und bissiger Wind nur halb so schlimm sind, wenn die Laune stimmt und man sich an einem Lavafeld eines Vulkans wärmen kann; und dass selbst die beste Funktionsjacke deutschen Boomer-Touristen wenig hilft, wenn es ans Durchwaten eines Flusses geht.

Vor allem aber entwickelte ich Respekt für Schafe. In meinen Augen stets ein ähnlich kopfloses, grasliebendes Herdentier wie sogenannte Fussballfans, das sich in den Bergen Islands aber als zäh, unbekümmert und trittsicher bei Wind, Regen und Nebel herausstellte und weitgehend autonom lebt – bis es im Herbst, wenn es in der Höhe kälter wird und das Futter knapp, mit Quads, Drohnen und Pferden eingesammelt wird.

Zurück in Reykjavik scheint die Sonne, fast wie in einer Parallelwelt – die 20-Grad-Marke ist geknackt, die Luft am Stadion von Valur unmittelbar neben dem Stadtflughafen riecht nach Hochsommer. Von einem kleinen Jungen nach dem Eingang für Balljungen gefragt, erkläre ich, dass ich kein Isländisch spreche – die Frage wird daraufhin in perfektem Englisch wiederholt. Alle Kinder reden Englisch. Ich dagegen weiss immerhin, dass Foss für Wasserfall, Jökull für Gletscher und Vik für Bucht steht. Kinder arbeiten hier auch an Verpflegungsständen und sind generell früh im Berufsleben aktiv. Gleichzeitig sind klassische Familienbilder und konservative Geschlechterrollen trotz formaler Gleichberechtigung in der Gesellschaft noch immer stark verankert.

So stehen beim Duell zwischen Valur und dem Rivalen KR wiederum auffallend viele junge Frauen mit Kinderwagen am Spielfeldrand oder sitzen mit dem Nachwuchs auf der Tribüne unter dem verlängerten Dach der Trainingshalle. «Walör» wird von einem virtuosen Trommler vorangetrieben, der im gut gefüllten Stadion am Hang (Hlidarendi) die Hälfte der 917 Zuschauer antreibt. Gegen die Hafenstädter aus Hafnarfjördur läuft es gut – das Spiel endet mit einem überzeugenden 3:1-Sieg für die Rot-Blauen.


KR Reykjavik - Breidablik

Die «Rauchbucht» Reykjavik überzeugt trotz kleiner Fläche mit lebendiger Kultur, farbigen Holzfassaden, Streetart und szenigen Boutiquen. Wer sich treiben lässt, passiert irgendwann die Backstuben von Braud oder Sandholt – die «Kanilsnudar» (Zimtschnecken) machen, wie man sie sonst nirgends bekommt. Dazu einen Flat White und Kunst in der Asmundarsalur oder Musik vom Vinyl-DJ vor dem Plattenladen Smekkleysa. Nebenan, im Bezirk Vesturbaer westlich der Stadtmitte Midborg, wirkt das Leben noch eine Stufe gelassener.

Hier hat auch KR Reykjavik sein Zuhause. Der Klub wurde 1899 gegründet, ist damit der älteste des Landes und Rekordmeister mit 27 Titeln. In Island sagt man übrigens lieber «Knattspyrna» als «Fotbolti». Letzteres ist die direkte Übersetzung von Fussball, während «Knattspyrna» wörtlich «Balltreten» bedeutet – ein bewusst geschaffenes Wort, um die isländische Sprache zu stärken. Die Farben von KR sind schwarz-weiss, angelehnt an Newcastle United, den englischen Meister im Gründungsjahr des isländischen Klubs.

Nur: Der letzte Titel liegt mittlerweile sechs Jahre zurück. Im Stadtduell gegen Breidablik sind die Gäste Favorit – rund 200 Fans begleiten sie. Trotz Rivalität bleibt es friedlich, alle sitzen auf derselben Tribüne im vollbesetzten Stadion. 3107 Zuschauer lautet die offizielle Zahl, was trotz des Gedränges ums Feld etwas hoch gegriffen scheint. Gespielt wird wie überall im Land auf Kunstrasen. Am Ende steht es 1:1 – ein ausgeglichenes Duell, das für den Gastgeber, derzeit in den hinteren Tabellenregionen unterwegs, als Achtungserfolg zählt.


Vikingur Reykjavik - Valur Reykjavik

Dass in Island auf ansprechendem Niveau Fussball gespielt wird, ist spätestens seit der EM 2016 bekannt. Damals drangen die «Vikinger» bis in den Viertelfinal vor, boten auf dem Weg dorthin dem späteren Europameister Portugal Paroli und eliminierten Fussballnation England. Auch auf nationaler Ebene hat der isländische Fussball trotz lediglich 400’000 Einwohnern einen grossen Schritt gemacht – belegt durch die jüngsten Vergleiche auf internationalem Parkett. So sind auch die beiden Hauptstadtklubs Vikingur und Valur Reykjavik in der Qualifikation zur Conference League unterwegs und nebenher seit über einem Monat unbesiegt.

Passend zum Spitzenkampf im isländischen Oberhaus präsentiert sich die Kulisse – trotz des generell hohen Preisniveaus auf der Insel, wo beispielsweise ein Fussballticket mit 23 Franken zu Buche schlägt und ausserdem nur digital angezeigt wird. Auf der einzigen Tribüne auf der Gegengerade hat sich eine kleine Gruppe Vikingur-Fans eingefunden, die das Spiel stehend verfolgt und einschlägige Gesänge anstimmt, wie man sie sonst eher in Stadien von Carlisle bis Truro hört.

Apropos England: Der ehemalige Premier-League-Stürmer Gylfi Sigurdsson musste noch vor der Pause – nachdem sein Torwart die rote Karte gesehen hatte – aufgrund einer Systemanpassung frustriert seinen Platz räumen. Wenige Augenblicke zuvor hatte Valur die Führung erzielt. Trotz dieses doppelten Nackenschlags bewiesen die Gastgeber Moral und kamen nach dem Seitenwechsel in Unterzahl zum Ausgleich. Der hielt bis zur vorletzten Spielminute, ehe das Siegtor für die Gäste grosse Gefühlsausbrüche auslöste – nicht gerade wie beim Eyjafjallajökull, aber doch laut genug, um die Hälfte der 1’640 Zuschauer mitzureissen.

Das späte 1:2 ist bitter aus Sicht des aufopferungsvollen Heimteams und sorgt für eine Konsolidierung im Titelrennen, das unterjährig und mit Meister- und Abstiegsrunde bis Ende Oktober ausgetragen wird: Valur steht neu an der Tabellenspitze innerhalb des punktgleichen Trios um Vikingur und Breidablik.


Breidablik - IF Vestri

Wie Perlen an einer Kette reihen sich im Südwesten Islands die Städte aneinander. Wer von Hafnarfjördur nordwärts fährt, passiert binnen weniger Kilometer erst Gardabaer, dann Kopavogur, ehe er in Reykjavik landet. Die Region, in der zwei Drittel der isländischen Bevölkerung lebt, ist längst zusammengewachsen – und auch die «Robbenbucht» Kopavogur, eine Landzunge südlich der Hauptstadt, ist Teil dieses Ballungsraums.

Wo einst junge Seehunde verweilten, leben heute vor allem Pendler. Mit Breidablik ist auch der amtierende Fussballmeister und zugleich grösste Sportverein Islands dort ansässig. Er zählt über 3000 Mitglieder, umfasst zwölf Abteilungen und lässt sich mit «glänzender Weitblick» übersetzen. Hört man sich im mit Pokalen dicht bestückten Vereinsheim bei anderen Fotografen um, wirkt der Name passend – dem Klub scheint dank seiner starken Nachwuchsarbeit eine verheissungsvolle Zukunft bevorzustehen.

Breidablik verkörpert derzeit mit Valur Reykjavik die Spitze des isländischen Fussballs und steht mit durchschnittlich zwei Punkten pro Spiel aktuell auf dem zweiten Platz der «Besta deild». Er war zudem der erste isländische Klub, der in eine Gruppenphase eines UEFA-Klubwettbewerbs – der Europa Conference League 2023/24 – einzog. Auch das Heimspiel vor 619 Zuschauern gegen Vestri bestimmen die Gastgeber klar, trotz der Doppelbelastung unter der Woche, wo mit Lech Poznan ein harter Brocken in der Qualifikation zur Champions League wartet. Das 1:0 ist hochverdient und fällt gemessen am Spielverlauf deutlich zu tief aus – eine Tatsache, die beim Hinausgehen auch die wenigen mitgereisten Fans aus Isafjördur anerkennen.


FC Cortaillod - FC Le Parc

Denke ich an mein Fussballjahr 2024 zurück, bleibt mir besonders ein Tag Anfang August in Erinnerung: Eine Wanderung durch die Rebberge, charmante Dorfkerne, die Aussicht auf die französischen Alpen, Wein mit Freunden, gute Gespräche, ein kühles Bad im Genfersee – und schliesslich der wunderschön gelegene Fussballplatz in Cully. All das direkt nach der Rückkehr aus dem Norden Kasachstans, wo sich der FC St. Gallen für die nächste Runde im Europacup qualifiziert hatte – was das gesamte Erlebnis in der Westschweiz noch surrealer wirken liess.

Zwar verpasste der FCSG in der abgelaufenen Saison den erneuten Tanz auf europäischem Parkett, doch die übrigen Elemente liessen sich ein knappes Jahr darauf nahezu identisch wiederholen: wieder dieselbe Begleitung, erneut eine Wanderung durch die Rebberge, wieder lokaler Wein – und abermals diese grandiose Aussicht auf Fussballplatz und See.

Dieses Mal am Jurasüdfuss in Cortaillod, mit seiner feinen Altstadt auf dem Plateau. Unten am Hang, direkt am Ufer des Neuenburgersees, liegt das Spielfeld mit dem passenden Namen «La Rive». Mit seiner Lage erinnert es sofort an die Heimat des FC Vignoble – und die Aussicht aus den Rebbergen zählt unbestritten zu den schönsten, die Fussballfans in der Schweiz zu sehen bekommen. Auf seinem Rasen trat der FC Cortaillod ein letztes Mal in dieser Saison zum Heimspiel an. Das 0:2 gegen den FC Le Parc vor rund 80 Zuschauern änderte nichts am Platz der Gastgeber im gesicherten Mittelfeld der sechsten Spielklasse.


SG Motor Gohlis-Nord - SG Taucha 99 II

Die «Sportgemeinschaft Motor Gohlis-Nord Leipzig eingetragener Verein» wird im Volksmund schlicht «MoGoNo» genannt. Mit über 2’500 Mitgliedern zählt sie zu den grössten Klubs der Stadt und unterhält zwölf Abteilungen – im Bogenschiessen und in der Leichtathletik gehört der Verein aus dem Leipziger Norden gar national zu den besten. Seinen Namen verdankt MoGoNo der Bildung von Betriebssportgemeinschaften zur Zeit der DDR. Da in Leipzig-Gohlis der Trägerbetrieb zur Maschinenbaubranche gehörte, wurde die BSG der Sportvereinigung «Motor» zugeordnet.

Doch weder der Name, noch das Wetter oder die sportliche Ausgangslage locken die Mehrheit der 30 Zuschauer an diesem Sonntagnachmittag an den Spielfeldrand. Bei Dauerregen und bescheidenen Ballkünsten der Vertreter aus der neuntklassigen Kreisoberliga Leipzig ist es der Spielort selbst, der beim 0:1 gegen die Zweitvertretung der Sportgemeinschaft aus Taucha – einem Vorort im Nordosten der sächsischen Grossstadt – im Zentrum steht.

Schliesslich ist das Stadion des Friedens über 100 Jahre alt und wies in den 1950er-Jahren einst ein Fassungsvermögen von rund 50’000 Zuschauern auf. Heute ist es auf etwas über 20’000 Plätze reglementiert – was die Spielstätte immer noch auf Rang 46 der grössten Fussballstadien Deutschlands führt. Der Zuschauerrekord mit 30’000 Fans datiert aus den hitzigen Stadtderbys zwischen dem FC Lokomotive Leipzig und der BSG Chemie Leipzig in der Oberligasaison 1983/84. Der Grund dafür war ebenso banal wie typisch: Der Rasen des Zentralstadions war nach dem 7. Turn- und Sportfest der DDR derart ramponiert, dass die beiden Klubs eine Ausweichspielstätte suchen mussten.


FC Lokomotive Leipzig - FC Erzgebirge Aue

Der Sachsenpokal weist für den FC Lokomotive Leipzig besonders in dieser Saison nicht annähernd die Gewichtigkeit der Liga auf. Dennoch steht «die Loksche» im Final des Verbandspokals, wo im heimischen Bruno-Plache-Stadion der Drittligist aus Aue als Gegner wartet. Der Rasen liegt im weitläufigen Rund weit entfernt und die Flutlichter im Innenraum versperren einem die Sicht. Die Spielstätte jedoch versprüht ihren eigenen Charme. Die 1932 errichtete Holztribüne ist noch immer erhalten und Lok verzeichnet mit 12’154 Zuschauern, darunter 2’000 Gäste aus dem Erzgebirge, eine der höchsten Zuschauerzahlen im 21. Jahrhundert – auch dank einer Zusatztribüne.

Während die Spielstätte eine Konstante bildet, ist der Klub in seiner Geschichte vielen Änderungen unterworfen. Der erste Verein wurde 1893 als VfB Leipzig gegründet und feierte als Deutscher Meister 1903, 1906 und 1913 früh grosse Erfolge. Im Zuge der Restrukturierung des ostdeutschen Fussballs wurden in den 1960er-Jahren mehrere Vereine zusammengelegt und schliesslich der FC Lokomotive Leipzig gegründet, der sich als Nachfolgeverein des VfB verstand. In der Zeit der DDR gehörte Lok als Betriebssportgemeinschaft der Deutschen Reichsbahn zu den erfolgreichsten Vereinen des Landes und konnte insgesamt 77 Spiele auf internationaler Bühne vorweisen – 1987 stand Lok gar im Final des Europapokals der Pokalsieger.

Nach der Wende fiel diese Verbindung weg. Lok nannte sich wieder VfB Leipzig, um an die frühere Zeit anzuknüpfen und unter dem traditionsreichen Namen den Klub zu etablieren. Ein Vorhaben, das scheiterte und nach zwei Insolvenzverfahren schliesslich 2004 sein Ende fand. Die Auflösung hatte sich abgezeichnet, weshalb einige Fans bereits im Vorjahr den FC Lokomotive Leipzig neugründeten und in der untersten Spielklasse wiederbegannen – ein ähnlicher Weg, den auch Stadtrivale Chemie einst beschritt. Rasche Aufstiege und der Zusammenschluss mit einem höher spielenden Verein ermöglichten den Sachsen den schnellen Weg zurück bis in die Regionalliga Nordost. Dort sicherte sich Lok in der Saison 2024/25 souverän den Meistertitel, ist aber aufgrund einer weiter ausbleibenden Regionalliga-Reform noch nicht sicher aufgestiegen. In der Relegation gegen den TSV Havelse spielen die beiden Meister ihrer Staffeln den letzten Aufsteiger in die 3. Liga aus.

Für das erste Endspiel, quasi die Generalprobe im Pokal, war der Rahmen bereits würdig. Schönstes Wetter, der Paragraph 31 des sächsischen Polizeigesetzes wird im Innenraum von einem nervösen Beamten gleich zwei Mal vorgelesen, Helikopter kreisen über dem Stadion, Choreografien auf beiden Seiten, dazu die alte Anzeigetafel sowie die Stehtraversen und die Leute auf den Gittern – ein Hauch vergangener Zeiten weht durch den Stadtteil Probstheida.

Dass im Südosten von Leipzig aber auch andere Zeiten angebrochen sind, unterstreichen Teile der Fanszene. Eine Freundschaft zum italienischen Fanverein Ideale Bari Calcio, reflektierte Aussagen auf der Webseite und im stets schön gestalteten «Leiden des jungen Bahnwärters» zeigen, dass der Ruf der Lokisten nicht mehr der Wirklichkeit entspricht – trotz Gegenwind in den eigenen Reihen (Banda Resoluta) und einem breiten Restpublikum, das mit blau-gelber Ultrà-Kultur wenig anfangen kann. Auch die Bildsprache – Fotografengrüsse an Fräulein Katzenhaar – sowie der dunkle Gelbton und die spezielle Schriftart der Ultras-Zaunfahne verdienen ästhetische Bestnoten. Schade, dass sich dieselbe Gruppe mit einem Spruchband im Verlauf des Spiels selbst diskreditierte, als sie in plumper Weise das abgebrannte Affenhaus im Krefelder Zoo, bei dem an Silvester 2019 fünfzig Tiere ihr Leben verloren hatten, mit einem jüngst durch Wismut-Fans verursachten Brand auf dem Stadiondach in Aue verglich.

Die Partie gegen die Schachter entpuppte sich als der erwartete Härtetest vor den beiden undankbaren Aufstiegsspielen nach einer Ausnahmesaison. Die Leipziger bestanden ihn – nach torlosen 90 Minuten und einer chancenarmen Verlängerung. In der Entscheidung im Elfmeterschiessen gewannen sie knapp mit 6:5. Darauf folgte kollektiver Freudentaumel und ein Platzsturm – es sollte der einzige der Saison bleiben.


Borussia Neunkirchen - Borussia Mönchengladbach

Überall blättert die Farbe ab und die Schriftzüge auf den Werbebanden sind kaum noch lesbar. Rost zieht sich durch die Wellenbrecher, die Fenster im Vereinsgebäude neben der Haupttribüne sind kaputt, alte Eingänge überwuchert. An anderen Orten wäre ein Stadion wie dieses längst abgerissen worden – doch das Ellenfeldstadion in Neunkirchen bröckelt weiter vor sich hin. Geld für Renovierungen gibt es in der 50’000-Einwohner-Stadt im Saarland, deren Geschichte von der Schwerindustrie geprägt ist, nämlich keines – zum Glück für Stadionliebhaber.

Der finanzielle Aspekt ist auch die Grundlage für dieses Benefizspiel. Borussia Neunkirchen kämpft schon länger mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten. So kam Borussia Mönchengladbach in seinem 125. Jubiläumsjahr auf die Idee, noch einmal an die Stätte ihres ersten Bundesliga-Spiels zurückzukehren. Damals, vor exakt 60 Jahren, spielten die «Fohlen» im Ellenfeldstadion unentschieden. Auch der Borussia Neunkirchen steht ein Jubiläum bevor: Sie wird diesen Sommer 120 Jahre alt. Der Klub blickt zurück auf eine turbulente Geschichte mit wenigen Erfolgen – einzig 1959 standen die Saarländer im DFB-Pokalfinal. Nebst klammer Kasse macht die Borussia auch sportlich seit längerem schwere Zeiten durch: Der Klub beendete die Saison auf dem vierten Platz in der sechstklassigen Saarlandliga, im Landespokal stiess das Team immerhin bis in den Halbfinal vor.

Zum Auftakt des Wochenendes finden sich an diesem Freitagabend 5’000 Zuschauer nahe der französischen Grenze ein. Die Terminwahl erweist sich für die Gastgeber als etwas unglücklich, da einige Anhänger gleichzeitig bei den befreundeten Fans in Saarbrücken weilen, die parallel ihr Relegationsspiel austragen. Doch auch so gibt die nicht mehr komplett zugängliche Spieser Kurve – die eigentlich eine Gerade ist – ein eindrückliches Bild ab. Vor allem, wenn man hört, dass beim Ausbau 1964 ursprünglich geplant war, auch die Gegengerade auf die Höhe der Spieser Kurve zu bringen.

Bis zur 70. Minute hält Neunkirchen wacker einen Zwei-Tore-Rückstand und verzeichnet selbst Chancen auf einen Treffer. Am Ende steht ein 0:5 gegen den Erstligisten, der mit mehreren gestandenen Bundesliga-Akteuren antritt. Doch der Gastgeber stellt den gelungenen Abend unter das richtige Motto und resümiert passend: «Erlebnis statt Ergebnis.»


FSV Zwickau - BSG Chemie Leipzig

Wenn der Nachwuchs spätabends vor dem Wochenende das 60-seitige Spieltagsheft zusammenschustert und dabei sogar den italienischen Plural von «capo» korrekt setzt, hat eine Fanszene definitiv gute Jugendarbeit geleistet. Verwunderlich ist das in Zwickau nicht, zählt der Kern der rot-weissen Anhängerschaft in meinen Augen doch zu den kreativsten in ganz Deutschland. Das beginnt bei der Schriftart der Zaunfahne, bei der sich 1997 ein paar Zwickauer Jugendliche von fanatischen Fans in Griechenland inspirieren liessen, und reicht bis zum Gruppenlogo Peter Pixel.

Während die Münchner Justiz im ersten Fall einst ihre fehlende Verhältnismässigkeit eindrücklich unterstrich, erinnerte mich Pixel immer an Karlsson vom Dach – auch wenn dieser seinen Propeller auf dem Rücken trug. Doch gerade dieser stilistische Bruch, sich in einer muskelstrotzenden Subkultur über ein charmant-kindliches Logo zu etablieren, zeugt von einer wohltuenden Eigenständigkeit – und wäre in Polen einem Grafiker für Mottoshirts im Fussballumfeld wohl ziemlich schnell zum Verhängnis geworden. Vielleicht war es auch genau dieser Umstand, der Zwickau mit dem «Bösen Ball» der Ultras Dynamo verband – einer Gruppenfreundschaft, die längst auf die beiden Klubs und die breite Fanbasis übergeschwappt ist. Ausdruck davon ist auch das Strassenbild in der Zwickauer Altstadt, wo mittlerweile mehr schwarz-gelbe als rot-weisse Sticker an den Laternen kleben.

Neben der Freundschaft nach Dresden unterhält Red Kaos auch langjährige Kontakte zu den Red Blue Devils aus dem ungarischen Szekesfehervar sowie zur Südkurve von Juve Stabia. In diesem Zusammenhang sei auch die musikalische Ader der Stadt im Südwesten Sachsens erwähnt, die Heimat Robert Schumanns. Zwar in völlig anderen musikalischen Gefilden zuhause, hätte sich der Komponist wohl dennoch nicht geschämt für Gesänge wie «Florenz aus dem Europapokal geschmissen», den «Doppelpass», die «Verflogenen Erfolge» oder für das hymnische «Dass wir Zwickauer sind». Letzteres wiederum inspirierte die Freunde aus Castellammare di Stabia zur Adaption «Siamo pazzi di te» – und glich damit zumindest symbolisch das wohl uneinholbare Ungleichgewicht übernommener Melodien zwischen Italien und dem deutschsprachigen Raum etwas aus. Selbst der einstigen Heimat widmete die Fanszene mit dem Stadionturmlied aussagekräftige Zeilen mit Ohrwurmcharakter.

Über das neue Stadion auf der Eckersbacher Höhe zieht zwar der Wind durch noch unbebaute Ecken, doch für Ultras, die zuvor zwei Jahrzehnte auf Stahlrohrtribünen im Westsachsenstadion und später im Sportforum Sojus gestanden hatten, ist das durchaus in Ordnung. Trotz moderner Anmutung vermittelt das Stadion einen praktischen Eindruck. Mit der jüngsten Kampagne «Fussball gehört den Fans», ins Leben gerufen, um eine Finanzlücke von einer halben Million Euro zu schliessen und die Löschung aus dem Vereinsregister zu verhindern, zeigte die Fanszene erneut ihre Schlagkraft. Statt eines Investoreneinstiegs entschied sie sich für ein Crowdfunding – eine selbstorganisierte Rettungsaktion anstelle eines ungewissen Ausverkaufs. Grund für die finanzielle Schieflage war der Abstieg 2023 aus der 3. Liga, in welcher die Schwäne seit der Saison 2016/17 gespielt hatten.

So blieb der 90’000-Einwohner-Stadt auch in der Regionalliga Nordost jener Klub erhalten, dessen Wurzeln im Planitzer SC liegen. Als Wiege der deutschen Autoindustrie war es später die BSG Horch/Motor Zwickau, die 1949/50 den Meistertitel der allerersten DDR-Oberliga-Saison gewann. Während der DDR-Zeit war der VEB Sachsenring Zwickau – Hersteller des Trabants – sogenannter Trägerbetrieb. Es folgten weitere Erfolge, etwa das Erreichen des Halbfinals im Europapokal der Pokalsieger 1976. In den 1990er-Jahren agierte der FSV Zwickau sogar zweitklassig, erlebte aber auch einen Abstieg bis in die Landesliga Sachsen. Durch die Geschichte führt auch ein von Fans während der Pandemie initiierter digitaler Sonderzug.

Auf den einzigen, jedoch umstrittenen DDR-Meistertitel spielten auch die Chemiker mit einem Spruchband an – und füllten mit 1’750 grün-weissen Anhängern die gesamte Hintertortribüne. Bei 9’651 Zuschauern trafen in einem praktisch ausverkauften Stadion zwei reife Fanszenen aufeinander – Blickfang Ultra gegen Erlebnis Fussball und damit auch zwei unterschiedliche Stile. Während bei den Gästen die Trommel den Klatschrhythmus – jeder Schlag Teil einer einfachen Melodie – unterstützte, agierte man auf Heimseite mit den Schlägern virtuos und melodisch. Das nicht minder originelle Liedgut unterstrichen die Chemiker durch Schnipseleinlagen, während der Sektor E5 gegenüber immer wieder neue Fahnen in den Tifo einband, darunter auch die bekannte in kyrillischer Schrift. Das Spiel endete 1:1, der vermeintliche Klassenerhalt für Chemie – doch die Hauptrolle spielten an diesem Tag die beiden Fankurven.


Carrarese Calcio - Modena FC

Im Flugblatt der Curva Nord, das sich sinngemäss mit «Stures Dagegensein» übersetzen lässt, äussern die Ultras aus Carrara nicht nur Unmut über die trägen Diskussionen rund um ein neues Stadion, sondern rücken den Fokus auch auf ein ernstes Thema: Wenige Tage vor dem 1. Mai verunglückte der Steinbrucharbeiter Paolo Lambruschi tödlich. Nebst einigen persönlichen Worten bleibt im Text besonders der Satz «Man muss von der Arbeit leben, nicht sterben» im Gedächtnis.

Im Stadion wird ihm – unmittelbar nach Anpfiff und von den Fans initiiert – mit einer Schweigeminute und einem Transparent mit klarer Forderung gedacht: Stoppt den Tod am Arbeitsplatz! Worte, die nicht zufällig fallen, sondern tief in der Geschichte Carraras verwurzelt sind. Die Stadt, eingebettet in die Apuanischen Alpen, ist seit jeher mit harter, bisweilen lebensgefährlicher Arbeit verbunden. Die Steinbrüche hoch über der Stadt, in denen der berühmte Carrara-Marmor gewonnen wird, haben Generationen geprägt – und viele Leben gekostet. Noch heute sind hier rund 30 Abbaustätten in Betrieb, die über dem Talbecken von Fantiscritti in der Sonne wie Schneefelder leuchten.

Dass dieser Alltag nicht nur industrielle, sondern auch kulturelle Spuren hinterlässt, manifestiert sich im Stadtbild: Trottoirs, Sitzbänke oder Pflanzentöpfe – alles aus Marmor. Wer Michelangelos David-Statue aus Florenz kennt, staunt, wie selbstverständlich mit dem edlen Werkstoff umgegangen wird. Sogar das Stadt- und Vereinswappen, ein stilisiertes Rad, erinnert an die alten «carri», die Karren, mit denen die schweren Blöcke einst zur Verarbeitung hinab ins Tal gebracht wurden.

Auch im Gästeblock herrscht zunächst Schweigen. Der Grund für den Protest des Gruppen-Dreiergespanns «Quei Bravi Ragazzi», «Vecchie Brigate» und «Dag dal Gas» – die seit der Auflösung von «Avia Pervia» den Kern von Modenas Fanszene bilden – liegt aber in den zuletzt schwachen Leistungen des Teams sowie in der jüngsten Derby-Niederlage gegen Reggiana. Die Anhänger aus Reggio Emilia waren einst Verbündete Carraras, doch seit deren Akzeptanz der Tessera haben die Carrara-Fans diese Verbindung gekappt. Das Verhältnis zu Modena ist damit historisch belastet – aber dennoch von gegenseitigem Respekt geprägt.

Exakt gegenüber der Gästefans liegt der Stimmungskern Carraras, wo hinter den wenigen Sitzreihen überraschenderweise auch ein Baum auf dem Stadionareal steht. Die Curva Nord trägt den Namen von Lauro Perini, der 1979 die historische Gruppe «Commando Ultrà Indian Trips» ins Leben rief. Erst seit wenigen Jahren und dem erhöhten Zuschaueraufkommen sind die Ultras tatsächlich wieder in der Nordkurve beheimatet. Zuvor standen auch sie auf der Gegengerade, wo weitere kleinere Gruppen bestehen, die jedoch kaum in Erscheinung treten. Die Fanszene ist links geprägt und unterhält mit Sturm Graz ein herzliches Verhältnis, dessen Anhänger wiederum mit Carraras ehemaliger Freundschaft Pisa verbunden sind. Die stärkste Abneigung hegen die Carrarese-Fans gegenüber Spezia, die auch an diesem Nachmittag immer wieder besungen wird.

Sportlich erlebt der Verein derzeit ein Hoch: Nach 76 Jahren gelang dem Klub auf diese Saison hin der Aufstieg in die Serie B. Mit einem sehenswerten Kopfballtreffer in der 86. Minute zum 2:1 sicherten sich die Toskaner vor 4’194 Zuschauern wohl vorzeitig den Klassenerhalt. Eine beeindruckende Willensleistung, trotz Unterzahl nach wenigen Minuten aufgrund einer Notbremse des Goalies.