FK Zalgiris Vilnius - FK Panevezys
Das litauische Nationalstadion ist die Sagrada Familia unter den Fussballstadien. 1987 setzten die Bauherren in Vilnius zum Spatenstich an, vier Jahre später mussten die Arbeiten aufgrund finanzieller Engpässe für lange Zeit unterbrochen werden. Erst 2008 erfolgte auf Bestreben der litauischen Regierung die Wiederaufnahme der einstigen Pläne, die wenig später von der Weltwirtschaftskrise abermals herb ausgebremst wurden. Vom zweiten Anlauf blieb ein Skelett aus Stahlträgern übrig, um dessen Rippen sich langsam, aber stetig die Pflanzenwelt schlängelte. Seit zwei Jahren wird auf der einstigen Brache wieder gearbeitet und im kommenden Sommer soll die neue Arena nach knapp vier Dekaden endlich fertig sein.
Die Grossbaustelle im Norden ist der braune Fleck auf der weissen Weste der litauischen Hauptstadt am Fluss Neris. Nebst den historischen Bauten sorgen besonders der Stadtteil Uzupis, die Kirche St. Anna sowie die Bars des nahegelegene Bernardin-Hofes für einen positiven Eindruck vom Zentrum des katholisch geprägten Landes mit knapp drei Millionen Einwohnern.
Wegen den Verzögerungen rund um das neue Nationalstadion figuriert seit bald zwei Jahrzehnten das LFF-Stadion als Zuhause der Nationalmannschaft, das primär von Rekordmeister und -pokalsieger Zalgiris genutzt wird. Unterstützt wird dieser bei Heimspielen in der Regel von zwei 30-köpfigen Fangruppen. Nebst einer Ansammlung am unteren Ende der Gegengerade sind am Rand der einzigen Hintertortribüne die «Pietu IV Ultras» zugegen, deren «Slava Ukraini»-Gesänge Solidarität mit der Ukraine und ihren Freunden aus der Anhängerschaft von Dynamo Kyiv ausdrücken.
Der Grossteil der 1621 Zuschauer verfolgt das Spiel hingegen lethargisch und schlapp von der Hitze, wozu die träge Partie ihren Beitrag leistet. Zalgiris – dessen Namen für das polnische Dorf Grunwald (Grünfelde) steht und sich auf die Schlacht bei Tannenberg bezieht – ist feldüberlegen, hat aber vor dem gegnerischen Tor wenig zündende Ideen. Gegen den Tabellenvorletzten führen die Hausherren erst in der siebenminütigen Nachspielzeit die Entscheidung herbei, sodass der Anschlusstreffer zum 2:1 aus Sicht des Leaders der «A lyga» nicht mehr ins Gewicht fällt.
Der amtierende Meister aus Panevezys steckt hingegen weiter in der Krise. Dass ihm in die Hauptstadt keine rot-blauen Anhänger gefolgt sind, liegt aber nicht am enttäuschenden sportlichen Abschneiden, sondern am Konstrukt generell: Dieses wurde 2015 nach der insolvenzbedingten Auflösung des städtischen Traditionsvereins FK Ekranas ins Leben gerufen. Der Kern der Fanszene – früher als «Ekranas Ultras» und heute als «Pirmoji Armada» organisiert – konnte sich nie mit dem Nachfolgeverein anfreunden und rief 2020 stattdessen unter dem einstigen Namen den alten Klub wieder ins Leben. Seit drei Spielzeiten tritt dieser in der zweithöchsten Liga an – unter anderem gegen die Reserve des FK Panevezys.
FA Siauliai - FC Dziugas
Auf dem Stadtsee trainiert eine Gruppe Ruderer unter den wachsamen Augen zweier Senioren, die in Socken und Sandalen gekleidet auf einer Bank schweigend ihr Bier trinken. Ein junges Ehepaar streicht den verrosteten Gartenzaun neu, im Park nebenan laufen die letzten Vorbereitungen für das abendliche Big-Band-Festival und vom Spielplatz dringt aufgeregtes Kinderlachen herüber. Das osteuropäisch-skandinavisch geprägte Alltagstreiben versprüht an diesem warmen Juni-Wochenende eine frühsommerliche Idylle in Siauliai.
Abgesehen vom einige Kilometer ausserhalb gelegenen Berg der Kreuze, einem katholischen Wallfahrtsort auf einem Hügelrücken mit über 200’000 Kreuzen, weist die Gegend in Norden Litauens wenig Sehenswertes auf. Einzig im Zentrum der 100’000-Einwohner-Stadt steht ein Schild, das auf das Spiel am Abend verweist. Doch auch der Fussball spielt in «Scheaulej», wie im restlichen Land, hinter dem Nationalsport Basketball nur eine Nebenrolle.
Die lokale «Football Academy» ist 2007 einer Fusion entsprungen und nicht mit dem FK Siauliai zu verwechseln, der über 10 Jahre in der höchsten Spielklasse spielte, ehe er sich 2016 aufgrund finanzieller Engpässe zur Auflösung gezwungen sah. Seither hat die ambitionierte FA Siauliai die Vorherrschaft inne und begrüsst zum Lokalduell gegen den FC Dziugas aus Telsiai in ihrer erst dritten Erstliga-Saison 510 Zuschauer im städtischen Stadion. Die Tickets werden auf Thermopapier gedruckt, dem Bier fehlt der Alkohol und die bescheidene Darbietung auf dem Rasen wird zusätzlich von langen Unterbrechungen durch den VAR entwertet. Immerhin fallen dank der überschaubaren Qualität bereits im ersten Durchgang vier Tore, wobei das Heimteam nach der frühen Führung gleich drei Gegentreffer verkraften muss.
Wie der FC St. Gallen tritt auch Siauliai in der Qualifikation zur Conference League an, was mich in ein Gespräch mit einem exzentrischen Vereinsfunktionär auf der Medientribüne verwickelt. Wir sinnieren gerade über den Schweizer Fussball («Why on earth would you name your team Young Boys?») und Traumlose auf europäischer Bühne, als die Gastgeber in der 86. Minute das 3:3 erzielen. Seine Freude währt bis tief in die Nachspielzeit, ehe er den stümperhaft verpassten Lucky Punch für Siauliai mit einem zerbrochenen Bierglas und dem Ausruf «fucking shit» quittiert.
SV Lichtenberg 47 - TSG Neustrelitz
Saisonfinale in der Oberliga Nord der Nordost-Staffel. Im Fernduell mit der Hertha aus Zehlendorf geht es für den zweitplatzierten SV Lichtenberg 47 am letzten Spieltag um den Meistertitel und den damit verbundenen Aufstieg in die Regionalliga. Entsprechend gross ist an diesem Frühsommertag das Interesse am Quartierverein aus dem 11. Berliner Bezirk.
Mit 1010 Zuschauern herrscht eine würdige Kulisse für die fünftklassige Partie und auch das nach dem antifaschistischen Widerstandskämpfer Hans Zoschke benannte Stadion kann sich sehen lassen: Nebst einem breiten Gastroangebot und der analogen Anzeigetafel sorgen von Gras überwachsene Stehstufen sowie ein alter Pin-Verkäufer mit Exemplaren aus der Zeit der DDR-Oberliga für besonderen Charme. Trotz eines erfolgreichen Schlussspurts und einem 4:2 über Neustrelitz bleiben in Lichtenberg nach dem Schlusspfiff die Feierlichkeiten aus, weil parallel auch die Konkurrenz aus dem Südwesten Berlins in Rathenow siegt. Die Enttäuschung hält sich beim kleinen Fanblock von «L47» allerdings in Grenzen und die Mannschaft wird trotz des verpassten Aufstiegs für die ansprechende Spielzeit mit Applaus in die Sommerpause verabschiedet.
Nebst dem authentischen Fussballerlebnis ist ein Besuch in Lichtenbergs Spielstätte auch aufgrund deren Lage unmittelbar neben der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit empfehlenswert. Die Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstrasse gewährt hierbei einen umfassenden Einblick in die Machenschaften der Stasi, die mit grotesker Perfidität und Doppelmoral die eigene Bevölkerung während vier Jahrzehnten hintergangen, überwacht und verfolgt hatte.
Siracusa Calcio - LFA Reggio Calabria
Gleich eine Vielzahl vielversprechender Partien gingen an diesem Sonntag in Sizilien über die Bühne: Im Kampf um den «Scudetto» der Serie D gastierte Cavese in Trapani, während sich im Final der Playoffs Siracusa und Reggio Calabria gegenüberstanden. Eine Ligastufe tiefer hielt der Halbfinal der Aufstiegsspiele die Paarung Milazzo – Jonica bereit und den Geheimtipp verkörperte das Endspiel der Coppa Italia der Sechstligisten zwischen Vittoria und San Vito Lo Capo, wo von einem starken Auftritt der «Curva Sud Turi Ottone» auszugehen war.
Die Qual der Wahl fiel schliesslich – mitunter aufgrund der Nähe zum Nachtquartier Catania und der schönen Altstadt – auf das Heimspiel von Siracusa. Mit der «Curva Anna» wartet hier eine gestandene Fanszene auf einen Besuch, die ihren Namen Anna Rametta verdankt. Bis zu ihrem Tod war «Signora Rametta» nicht nur die Mutter von Fan Carmelo, sondern auch ein steter, gern gesehener Gast auf der Heimtribüne gewesen, die mit ihrem freundlichen Wesen für viele Anhänger zur «Mamma» der Kurve avancierte. Weniger schöne Worte fanden die Küstenstädter hingegen jüngst für ihre einstigen Brüder von Juve Stabia, mit denen sie eine 45-jährige – und damit eine der italienweit längsten – Freundschaft verband. Nachdem die Sizilianer Anfang Mai auf dem Weg zum Auswärtsspiel bei Afragolese in Casalnuovo di Napoli in einen Hinterhalt geraten waren, warfen sie ihren Freunden aus Castellammare di Stabia in einer Mitteilung Verrat vor. Weil diese eine Freundschaft zu den Ultras Napoli und damit zum Lager der Angreifer pflegen, hätten sie von deren Absichten zwingend gewusst und ihre Freunde warnen müssen, begründeten die Siracusa-Fans die Auflösung der «Gemellaggio».
So beschränkte sich die Präsenz befreundeter Ultras an diesem Nachmittag auf den «Sita Clan» aus Agrigento, der ältesten «Amicizia», welche die Heimkurve aufweist. Auch zum heutigen Kontrahenten aus Reggio Calabria pflegten die Blau-Weissen vor der Jahrtausendwende einst ein gutes Verhältnis. Ob dies mit ein Grund war, dass die Behörden zum Playoff-Final in der Girone I Gästefans zugelassen hatten, wage ich jedoch zu bezweifeln. Ein Transparent mit dem Wunsch nach Auswärtsfahrten ohne Einschränkungen und die mit 343 tiefe Zahl an Reggina-Fans liessen aber erahnen, dass seitens der Verantwortlichen ein kurzfristiges Umdenken stattgefunden hatte. Diese These stützte auch der bekannte Fangesang aus dem Gästeblock zur Melodie von Marcella Bellas «Montagne verdi».
Mit 4900 Zuschauern waren die restlichen Sektoren des Stadions für die Entscheidung in der südlichsten Staffel der Serie D ausverkauft. Benannt ist die Spielstätte nach dem ehemaligen Juve-Stabia- und Siracusa-Verteidiger Nicola De Simone, für dessen Begräbnis 1979 über 1500 Siracusa-Fans nach Castellammare di Stabia reisten und dort den Grundstein für die nun zerbrochene Freundschaft zwischen den beiden Fanlagern (und später sogar zwischen den Städten) legten.
Mit zwei lautstarken Kurven, ebenso vielen roten Karten und etlichen Rudelbildungen oder Diskussionen mit dem Schiedsrichter bekam die Partie einen emotionalen Rahmen verliehen. Den würdigen Höhepunkt stellte der vielumjubelte Treffer zum 2:1 für Siracusa in der 88. Minute dar, auf den die Gäste nicht mehr zu reagieren vermochten. Trost gab es für die leidgeprüften Reggina-Anhänger, die ihr Team noch vor einem Jahr in den Aufstiegsspielen zur Serie A angefeuert hatten, erst Wochen später und abseits des Rasens: Ein Sieg vor Gericht ebnete «Reggina 1914» die offizielle Rückkehr zu den Wurzeln, sodass der gewöhnungsbedürftige Name «La Fenice Amaranto» (der dunkelrote Phönix) wieder aus der Historie der 2023 zwangsrelegierten Kalabrier verschwindet.
Für das Heimteam fällt der Triumph mit dem 100-jährigen Jubiläum zusammen, der ob des Aufstiegs im Vorjahr umso beachtlicher ist. Damit endet für Siracusa die Spielzeit wiederum mit Feierlichkeiten in den umliegenden Strassen, obwohl es im Duell mit Reggio Calabria praktisch um nichts ging. Der Grund dafür liegt im italienischen Ligasystem: Aus der Serie D steigt einzig der Meister der jeweiligen Staffel auf, während die Zweit- bis Fünftplatzierten in mehreren Playoff-Runden lediglich ihre Klassierung in einer Schlusstabelle ausspielen, die im Falle insolventer Drittligisten die Reihenfolge für nachrückende Vereine regelt. Weil der erste Platz davon – anstelle der bankrotten US Ancona – in diesem Jahr vom sportlichen Abschneiden entkoppelt bereits dem Nachwuchs von Milan zugesichert wurde, bestand für Siracusa zu keiner Zeit eine realistische Chance auf den Durchmarsch.
Catania SSD - Atalanta BC II
Catania schloss in der Südstaffel der Serie C eine durchwachsene Saison auf Rang 13 ab. Dennoch waren die Jubelstürme der «Rossazzurri» nach dem Heimsieg am letzten Spieltag gegen Aufstiegsaspirant Benevento überschwänglich. Nicht nur, weil die Sizilianer damit die Playouts knapp verhindert haben, sondern weil ihnen die drei Punkte den Weg für die Playoffs ebneten. Die spezielle Situation gründet allerdings nicht auf einer engen Schlusstabelle. Das Startrecht für die Aufstiegsspiele hatte sich Catania durch den Gewinn der Coppa Italia der Drittligisten erkämpft, das sie laut Regelwerk allerdings nur wahrnehmen dürfen, wenn sie zum Saisonende nicht zu viel Rückstand aufweisen oder auf einem potenziellen Abstiegsrang stehen würden.
Der Weg von Palermo quer durch Sizilien ist von der Maut befreit, nicht aber von bröckelndem Asphalt und fragwürdigen Stop-Signalen an den Zufahrten zu Schnellstrassen. Die Landschaft ist schön und bergig, bisweilen aber auch karg und trocken. Verruchte Häuserblocks, von Sonne und Meerluft verblichene Motorhauben und Jungspunde auf Vespas, die waghalsig über das Kopfsteinpflaster düsen, kündigen nach drei Stunden Fahrt erste Ausläufer Catanias an. Die 300’000-Einwohner-Stadt ist bekannt wegen des Ätnas und berüchtigt wegen der Cosa Nostra, der sizilianischen Mafia.
Auch auf fussballerischer Ebene hat der Ort an der Ostküste des Ionischen Meeres eine besondere Stellung inne, die auf Vorkommnisse im Februar 2007 zurückgeht: Beim Derby zwischen Catania und Palermo kommt es zu Ausschreitungen, nachdem die heimischen Anhänger die Niederlage gegen den Erzrivalen nicht auf sich sitzen lassen wollen. Im Verlauf des mehrstündigen Schlagabtauschs findet mit Filippo Raciti ein Chefinspektor der Polizei den Tod. Mit dem damals 17-jährigen Antonio Speziale wird ein Verantwortlicher dafür ausgemacht, über dessen Schuld die Meinungen bis heute weit auseinandergehen. Fakt ist: Das Jugendgericht von Catania hatte «Antonino» damals zu 14 Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt, im Dezember 2020 verliess Speziale das Gefängnis endgültig. Die Einführung der «Tessera del tifoso» in den Folgejahren hängt auch mit diesem Vorfall zusammen und läutete im nationalen Fantum eine neue Zeitrechnung ein.
Über eine Dekade später versuchen sich die italienischen Kurven noch immer von jenen Repressionen zu erholen – oder haben gelernt, damit umzugehen. Auch an diesem Abend im «Stadio Angelo Massimino» gibt es Momente, die mich die Zustände in Zeiten vor der Fankarte erahnen lassen. In Catania sind dafür zwei Stimmungszentren verantwortlich: Die kleinere Curva Sud mit dem sehenswerten Material und den historischen Gruppen «Falange D’Assalto», ihrem verstorbenen Anführer «Ciccio Famoso» oder den «Irriducibili» und gegenüber die grössere und stimmgewaltigere Curva Nord. Dort beginnt der Abend mit einer inbrünstigen Ansprache eines Capos. Ein Zeichen von Mentalität, auch wenn Videos in sozialen Medien aus den ersten Reihen dieser Kurve immer wieder die Frage aufkommen lassen, wie ehrlich die Italiener ihre eigene Subkultur eigentlich noch ausleben. Weitere kleinere Splittergruppen sind an beiden Enden der Gegentribüne zu finden.
Wie Palermo hat auch Catania eine Zwangsrelegation in die Serie D und eine Umbenennung – hin zum Namenszusatz «Società Sportiva Dilettantistica» (SSD) – hinter sich. Dank eines Sieges in der Lombardei stiegen die Aufsteiger mit einer komfortablen Ausgangslage ins Rückspiel. Selbst eine Niederlage mit einem Tor Differenz würde ihnen für das Weiterkommen genügen, da bei Gleichstand der Coppa-Sieger von beiden Playoff-Teilnehmern höher eingestuft wird. Obwohl die erste Mannschaft der Bergamasken zeitgleich in Lecce spielte, blieb den Atalanta-Fans ein Spielbesuch auch von offizieller Seite verwehrt. So bevölkerten stattdessen italientypisch tausend Kinder lokaler Fussballschulen den Gästeblock. Gemeinsam mit den 19’739 Zuschauern sahen sie, wie die Sizilianer lange die Feldüberlegenheit innehatten, in der Nachspielzeit das 0:1 kassierten, den Rückstand aber mit Mühe über die Zeit zu retten vermochten und sich so für die nächste Runde qualifizierten.
Palermo FC - UC Sampdoria
Mit seiner rosaroten Farbe wirkte es zwischen den Exemplaren von Real Madrid oder Juventus – damals noch mit Namen wie Zidane oder Trezeguet bestückt – wie ein Fremdkörper. Das Trikot der US Palermo faszinierte mich und gehörte Patrick, meinem damaligen Trainer in der E-Jugend eines Ostschweizer Dorfvereins. Ein gutmütiger und ob seinen sizilianischen Wurzeln überraschend ruhiger Typ, der mein beschränktes fussballerisches Talent lange vor mir erkannt hatte und mich deshalb meist zum Alleinunterhalter der Ersatzbank degradierte.
Zu dieser Zeit hatten die Süditaliener noch regelmässig im Europacup gespielt. Im letzten Jahrzehnt befanden sich die «Aquile» allerdings im Sinkflug, der 2019 im Zwangsabstieg und der herben Bruchlandung in der viertklassigen Serie D endete. Der Klub aus Palermo gründete sich daraufhin neu und ist spätestens seit der Übernahme vor zwei Jahren durch die City Football Group, die 80% der Anteile hält, aus sportlicher Sicht wieder ein ambitionierter Zweitligist. Lediglich die Stahlträger unter den Tribünen erinnern weiter eher an die Zeche Zollverein als an einen europäischen Spitzenklub. Im Innern fehlen den meisten Sitzschalen die Beschriftung, sodass das sizilianische Temperament bei der Platzwahl zutage tritt, während sich im Hintergrund ein Moderator eines lokalen Radiosenders zu Tanzeinlagen und Aussagen wie «Facciamo lo Renzo Barbera la discoteca più grande del mondo» hinreissen lässt.
Dieses fragwürdige Rahmenprogramm hätte Palermo gar nicht nötig, ist hier doch eine lautstarke Fanszene zuhause, wenn auch an drei unterschiedlichen Standorten: Das grösste Stimmungszentrum liegt im Oberrang der Nordkurve, die nach «Totò Rambo» benannt ist. Der einstige Anführer der historischen Gruppe «Warriors» hiess mit bürgerlichem Namen Salvatore Nocilla und hatte die Fankultur in Palermo bis im Sommer 2022 geprägt, ehe er einer schweren Krankheit erlag. Die zweite illustre Figur in diesem Sektor ist Johnny Giordano, Gründer der ebenfalls historischen «Brigate Rosanero» und Mittelsmann der sizilianischen Unterwelt. Heutzutage tritt mit den «Ultras Palermo 1900» sein Zusammenschluss gemeinsam mit der «Curva Nord 12» im Oberrang auf und pflegt eine Freundschaft nach Padova. Die Kontakte zum Pfalz Inferno aus Kaiserslautern sind durch den steten Umbruch der letzten Jahre hingegen eingeschlafen.
Weiterhin aktiv ist die Freundschaft zwischen der optisch ansprechenden «Curva Nord Inferiore» im Unterrang und den Vertretern der Brigata Tifosi des niederländischen Zweitligisten De Graafschap. Gegenüber, direkt hinter dem Tor, hat sich mit den «Non-Tesserati» der Curva Sud ebenfalls ein kleiner Stimmungsblock gebildet, der zum Einlauf der Mannschaften Böller und Pyrotechnik zündet. Eine vierte Fanschar fehlt diesem Playoff-Duell nur deshalb, weil der Zutritt für Gästeanhänger auf Inhaber einer Tessera del tifoso aus Ligurien beschränkt wurde. So boykottierten die Ultras von Sampdoria das Auswärtsspiel und verabschiedeten ihr Team stattdessen bereits am Vortag in Genova.
Ohne die Unterstützung von den Rängen taten sich die Gäste schwer und überliessen den Sizilianern früh das Spielgeschehen. Diese wussten die Überlegenheit unmittelbar vor und nach der Pause in ein Tor umzumünzen, sodass die 32’730 Zuschauer zum Schluss mit dem 2:0 das souveräne Weiterkommen ihrer Mannschaft beklatschen durften. «Pädy» hätte sich darüber sicher gefreut.
AS Cittadella - SSC Bari
«Dem Stadio San Nicola in Bari bei einer «Kehrauspartie» gegen den Tabellenfünfzehnten aus Cittadella einen Besuch abzustatten, grenzt an Ehrverletzung.» Mit dieser Aussage leitete ich vor weniger als einem Jahr den Bericht zum Playoff-Final der Serie B ein. Bari empfing Cagliari vor vollen Rängen zum Rückspiel und stand unmittelbar vor dem Aufstieg in die Erstklassigkeit. Ein tragisches Gegentor in der 94. Minute und 36 miserable Spieltage später liegt Bari zwei Runden vor Schluss stattdessen auf einem direktem Abstiegsplatz der Serie B – und gastiert in Cittadella.
Die kleine Gemeinde mit 20’000 Einwohnern diente im Mittelalter der Provinzhauptstadt Padova als militärischer Vorposten und verfügt bis heute über eine intakte Stadtmauer sowie einen begehbaren Karussellweg. Dieses Wahrzeichen findet auch im Vereinswappen der AS Cittadella Verwendung, die 1973 aus einer Fusion zweier Klubs entstanden ist und sich seit der Saison 2016/17 in der zweiten Liga hält. Beinahe genauso lang existiert mit den «Rabaltai Sitadea» die heutzutage führende Fangruppe, die sich bei der Suche nach einer passenden Bezeichnung vom Stadtnamen und dem Wort Rebellen – jeweils in der venezianischen Sprache gehalten – inspirieren liessen.
Ihre Vertreter lancieren den Spieltag vor einer Bar in der Innenstadt, deren Wände nebst der Freundschaft zu den Lost Boys (vom einstigen Klub AlzanoCene) auch Kontakte zu Fans der Go Ahead Eagles aus dem niederländischen Deventer erahnen lassen. Auch vereinzelte Bari-Ultras geniessen unweit davon bei einem Aperol Spritz die frühsommerlichen Temperaturen. Angesichts dieser Umstände ist es noch unverständlicher, dass Gästefans aus der Provinz Bari beim letzten Aufeinandertreffen vor eineinhalb Jahren der Einlass untersagt wurde.
Die seltene Reisefreiheit dürfte denn auch den Ausschlag gegeben haben, dass trotz des sportlichen Tiefflugs stattliche 890 Anhänger aus Apulien den Weg ins Stadion Pier Cesare Tombolato gefunden hatten. Sie mussten mitansehen, wie ihre Mannschaft bereits nach sechs Minuten ins Hintertreffen geriet. Bemerkenswert fiel allerdings die Reaktion der Gästefans aus, die nach dem frühen Gegentor stimmungstechnisch noch eine Stufe aufzudrehen vermochten. Besonders bei der Kritik gegen Multi-Club-Ownerships sangen sich die Süditaliener mit dem Lied «Aurelio vattene», bezogen auf Napoli– und Bari-Besitzer Aurelio De Laurentiis, für kurze Zeit in einen Rausch. Auf dem Rasen bekamen die 4296 Zuschauer ein 1:1 zu sehen, bei dem die Gäste nach dem Ausgleich nicht mehr alle Risiken eingingen und stattdessen den Punktgewinn zu konservieren versuchten. Trotz einiger Unstimmigkeiten und gegenseitiger Vorwürfe im Team gelang dies, sodass die Entscheidung in der letzten Runde fällt: Dann spielt Bari vor heimischem Publikum im Fernduell mit dem punktgleichen Ascoli den letzten direkten Absteiger aus.
KF Tirana - FK Partizani Tirana
Kommt es in Tirana zum Derby, treffen Stadt und Umland sowie Rekordmeister und aktueller Titelträger aufeinander. Doch aufgeladen ist das bedeutendste Spiel Albaniens auch aufgrund der Geschichte beider Vereine: Mit dem KF «Tirona», wie die Stadt im gegischen Dialekt genannt wird, trifft der älteste Klub des Landes auf den einstigen Armeeverein Partizani, dessen Wappen der Sowjetstern ziert. Dieser geht zurück auf die Gründung des Klubs zur Anfangszeit des kommunistischen Regimes unter Enver Hoxha. Bis zu seinem Tod 1985 herrschte der autokratische «Onkel Enver» in der Sozialistischen Volksrepublik Albanien – ideologisch an Josef Stalins Sowjetunion angelehnt, nie aber unter jugoslawischer Obhut.
Für das Stadtduell wurden im neugebauten Nationalstadion auf beiden Hintertortribünen im Unterrang die Sitzschalen entfernt, was ein kompaktes Bild in den Fankurven abgab. Auch auf dem Rasen entwickelte sich – im Gegensatz zum Vortag in Elbasan – eine unterhaltsame Partie, die mit einem Traumtor und einem ausgelassenen Jubel seitens Partizani einen ersten Höhepunkt fand. Nach dem Ausgleich kurz vor dem Pausenpfiff dauerte es bis zur 75. Minute, ehe ein kurzes, aber ohrenbetäubendes Feuerwerk hinter der Partizani-Fankurve die turbulente Schlussphase einläutete. Nebst Torchancen auf beiden Seiten und je einer roten Karte hielt diese in der Nachspielzeit auch den Siegtreffer für Partizani bereit.
Während die Weiss-Blauen auf dem Rasen mit 1:2 verloren, konnten sie immerhin das Duell mit den Ultras Guerrils auf den Rängen für sich entscheiden. Immer wieder vermochte der Stimmungskern um die Tirona Fanatics viele der 12’700 Zuschauer mitzureissen, und auch die aufgrund von Differenzen am Rand des Oberrang stehende Capital Crew machte mit stetem Engagement und einer optischen Einlage auf sich aufmerksam.
Diese Aktion kam zumindest für mich wenig überraschend, hatte die Fahrt mit der Seilbahn auf den Dajti zwei Tage zuvor dem aufmerksamen Auge doch bereits letzte Vorbereitungen dafür offenbart. Nebst dem Blick auf ebenjene Terrasse eines grossen Häuserblocks bietet der Hausberg eine schöne Aussicht auf die Hauptstadt mit ihrer etwas über einer halben Million Einwohnern. Damit beheimatet Tirana rund einen Sechstel der nationalen Bevölkerung. Trotz einer überschaubaren Anzahl Sehenswürdigkeiten verzeichnet Albanien einen Tourismus-Boom. Vor allem bei Reisenden aus Italien ist das Land beliebt, auch weil viele Einheimische die italienische Sprache beherrschen. Wer den verstopften Strassen – gefühlt wird eher in Autos als in Strassen oder Parkplätze investiert – entfliehen mag, findet mit dem Bovilla-Stausee und dem Berg Gamti im Skanderbeggebirge einen schönen Kontrast zum hektischen Stadtalltag.
Dinamo City - KF Laci
Am Zaun lehnt ein verrostetes Fahrrad, am bröckelnden Gemäuer prangt ein hastig gespraytes Graffito mit der Aufschrift «No Cops, No Problems» und auf der Ersatzbank hat sich ein Obdachloser einen Schlafplatz eingerichtet. Trotz der Renovation vor weniger als einem Jahrzehnt wirkt das Selman-Stermasi-Stadion mit seinen kaputten Sitzschalen und den verblichenen Werdebanden wie ein Fremdkörper in der Gegend rund um den aufstrebenden Stadtteil Blloku. Dabei beheimatete die Spielstätte mit KF Tirana und Dinamo Tirana noch vor einigen Jahren die beiden erfolgreichsten Vereine Albaniens.
Trotz fehlender Infrastruktur verfolgt der 18-fache Meister Dinamo seit der Rückkehr in die höchste Liga im vergangenen Sommer grosse Pläne: Man arbeite neu mit der City Football Group zusammen, liessen die Verantwortlichen damals verlauten. Um die Zugehörigkeit zum Netzwerk um Manchester City zu untermauern, benannte sich Dinamo Tirana in Dinamo City um und passte auch sein Wappen so an, dass es sich durch den typischen Blauton mit den anderen Klubs aus der internationalen Holding-Gesellschaft assoziieren lässt. Mit Edi Rama ist auch der albanische Ministerpräsident ins ambitionierte Projekt involviert, der dem Konsortium in Durres, der zweitgrössten Stadt des Landes, ein Grundstück zur Verfügung gestellt hat. Hier soll im Herbst 2024 mithilfe des nationalen Bildungs- und Sportministeriums und den finanzstarken Besitzern der «Citizens» mit der Dyrrah City Football Academy eine professionelle Fussballschule eröffnet werden.
Vom Glanz und Glamour des englischen Spitzenteams ist Dinamo derzeit allerdings in jeglicher Hinsicht weit entfernt. Der Klub steht im 10er-Feld der Kategoria Superiore auf dem siebten Platz und muss das Heimspiel gegen Laci im Exil in Elbasan austragen, 40 Kilometer südöstlich der Hauptstadt. Nur gerade 250 Zuschauer sind vor Ort, die Einheimischen interessieren sich – wenn überhaupt – eher für den auf dem Aufstiegsplatz stehenden Zweitligisten AF Elbasani. Auch von den «Blue Boys», der Fangruppe Dinamos, oder Gästen aus Lac, einer Kleinstadt im Norden des Landes, fehlen jede Spur. Das Niveau auf dem Rasen ist bescheiden, im letzten Drittel fehlt den Akteuren die Genauigkeit. So stellt beim chancenarmen 0:0 das Panorama hinter der Südtribüne rund um den Berggipfel Valamara das einzige Highlight dar.
FC Zimbru Chisinau - FC Petrocub Hincesti
«Wieso seid ihr hier? Hier gibt es nichts zu sehen.» Die beiden Sätze einer jungen Medizinstudentin vor einer Bar im Zentrum von Chisinau sind beispielhaft für die Äusserungen vieler Einheimischen, nachdem sie unser Duo als Ausländer enttarnt haben. Tatsächlich gibt es in dieser Situation wenig Argumente, mit denen zwei Westeuropäer – ohne die noch fragwürdigere Leidenschaft Groundhopping ins Feld zu führen – eine Reise in ein Land legitimieren können, das gefühlt zuletzt 2004 für positive Schlagzeilen gesorgt hat, als die moldauische Boyband O-Zone mit ihrem Liebessong «Dragostea din tei» einen internationalen Charthit landete.
Wegen wenigen Metern ohne Meeranschluss und eingeklemmt zwischen Rumänien und der Ukraine steht die Republik Moldau, umgangssprachlich auch Moldawien genannt, für eines der ärmsten Länder Europas, eine hohe Erwerbslosigkeit und eine tiefe Lebenserwartung. Mit den abtrünnigen Regionen Gagausien und Transnistrien oder in Form der historischen Region Bessarabien sieht sich der krisengeplagte Staat mit zweieinhalb Millionen Einwohnern zudem immer wieder mit territorialen Machtbegierden aus dem In- und Ausland konfrontiert.
Besonders um die «Piata Centrala» macht sich der harte Alltag der moldauischen Unterschicht bemerkbar. Auf den Gehsteigen werden Falschgeld und Klappmesser neben ausgebauten Autoradios, Aphrodisiaka, und Altkleidern angeboten. Die alten Busse in den Strassen sind meist bis auf den letzten Platz besetzt, in jenem vom Flughafen ins Stadtzentrum bahnt sich eine ältere Frau in einer Weste und mit Finken den Weg durch die Passagiere und sammelt das Geld für die Fahrt ein, ein zweites Gepäckstück kostet extra.
Und doch bietet alleine die Hauptstadt Chisinau eine Vielzahl an Sehenswürdigkeiten, besonders für Liebhaber der sozialistischen Architektur. Sie kommen etwa bei den imposanten «City Gates», dem Staatszirkus oder dem Puppentheater, dem kollektiven Wohnturm «Romanita», dem Kaffeehaus Guguta oder in Form des moldauischen Präsidentenpalastes sowie jenem zu Ehren der Republik auf ihre Kosten. Auch religiöse Bauten wie das Kloster Ciuflea, die Kathedrale der Geburt des Herrn oder der Kirche St. Teodora sind einen Besuch wert. Wer Erholung und Entspannung sucht, ist in Parkanlagen wie dem Valea Morilor mit seinem kleinen See, dem Sommertheater und der imposanten Kaskadentreppe gut aufgehoben.
Der Fussball hingegen spielt im Leben der Moldauer eine untergeordnete Rolle. So überrascht es wenig, dass lediglich 1700 Zuschauer das Spitzenspiel im Nationalstadion mitverfolgen. In diesem duelliert sich Zimbru Chisinau mit Petrocub Hincesti. Der ungewohnte Zusatz «Zimbru» geht, wie im Logo ersichtlich, auf den Bison zurück und gehört seit Anfang der 1990er-Jahre zum immer wieder geänderten Namen der Hauptstädter. Unterstützt wird Zimbru im Duell um die Tabellenspitze von einer kleinen Fankurve, die bis zur Spielmitte auf rund 50 Anhänger und ein paar Kinder anwächst. Auch überraschend viele Gästefans haben die Reise in die Hauptstadt angetreten und sich auf der gut gefüllten Haupttribüne niedergelassen, wie beim frühen Führungstreffer zu erkennen ist. Dank eines Elfmeters kommen die Hausherren vor dem Plattenbau-Panorama nach dem Seitenwechsel zu einem schmeichelhaften 1:1. Zum Saisonende sollte der Titel aber dennoch – und verdienterweise – erstmals in der Geschichte nach Hincesti gehen.